Und selbst diese Zahl halten manche Experten für eine konservative Schätzung. Die Dunkelziffer könnte demnach sogar im zweistelligen Millionenbereich liegen. Doch wie kann es dazu kommen, dass in einem modernen Industriestaat, der alljährlich viele Milliarden ins Bildungssystem pumpt, erwachsene Menschen kaum oder gar nicht lesen und schreiben können?

Und wie bewältigen sie einen Alltag im 21. Jahrhundert, wo angefangen vom Miet- und Arbeitsvertrag über Speisekarten und Behördenanträge bis hin zu Gebrauchsanweisungen fürs neue Handy Leseverständnis zu den wichtigsten Kompetenzen zählt?

Zu wenig Geld für Bildung?

Um gleich im Vorfeld zwei scheinbar naheliegende Mythen aus dem Weg zu räumen: Zum einen sind nicht nur Migranten aus Ländern mit nichtdeutscher Muttersprache von dem Problem betroffen. "Bildungsferne Schichten", wie es verschämt umschrieben wird, existieren auch unter den gebürtigen Deutschen. Der zweite Mythos betrifft wie so oft das liebe Geld. Bei nahezu jeder gesellschaftlichen Problematik wird nach dem staatlichen Füllhorn verlangt.

Ein Trugschluss. Denn Geld alleine kann keine Probleme lösen. Wäre dem so, müsste es unmöglich sein, dass etwa in den USA ein beträchtlicher Anteil der Absolventen eines der teuersten Bildungssysteme der Welt die Schule als funktionale Analphabeten verlässt. Zusätzliche Förderprogramme wie "No Child Left Behind" verschlangen unzählige Milliarden, ohne merkbare Effekte zu erzielen. Ganz ähnlich die Situation in Deutschland, wo trotz ständig steigender Bildungsausgaben die Ausbildungsqualität an vielen Schulen sinkt.

Der Grundstock für Bildung wird nämlich nicht in der Schule, sondern im Elternhaus gelegt. So schmerzhaft diese Erkenntnis für Sozialromantiker auch sein mag: Es ist weder Zufall, noch Ausdruck einer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit, wenn behütete Kinder aus bildungsnahen Familien mit der Freude am Lernen bzw. Er-Lernen der Welt aufwachsen, und zwar unabhängig vom Einkommen der Eltern oder ihrer kulturellen Herkunft, während überall dort, wo Wissen als unnütz erachtet oder aus "traditionellen" Gründen verboten wird, die Früchte der Bildungsfeindlichkeit erblühen und wiederum die Saat für kommende Generationen an "Bildungsverlierern" legen.

Keine Selbstverständlichkeit: ...

Keine Selbstverständlichkeit: Kostenlose Bildung für alle (Bild: http://pixabay.com)

Bildung ist keine Frage der Genetik

Allzu einfach wäre es, beispielsweise dem Fernsehen mit seinen unzähligen dümmlichen Elaboraten der Einschaltquotenfetischisten oder den Lehrern alleine die Schuld zuzuschieben. Kinder sind wissbegierig und wollen lernen. Es ist ihre Umwelt, die darüber entscheidet, ob sie diese natürliche Neugierde behalten und weiterentwickeln, oder ob sie demotiviert und entsprechend sozialisiert werden. Werden im Elternhaus Bücher als sinnlose Geldverschwendung angesehen, Intellektuelle als arrogante Eierköpfe verspottet und Kindern nahegelegt, die unnütze Schule möglichst bald zu verlassen und irgendeinen Job anzunehmen oder sich auf staatliche Zuwendungen zu verlassen, dürfen die entsprechenden Auswirkungen nicht verwundern.

Bildung wird nicht genetisch, sondern familiär vererbt. Gerade in einem Industriestaat wie Deutschland muten die Ausreden für Bildungsferne grotesk an: Die Schulpflicht, zahlreiche Bildungsprogramme, Volkshochschulkurse, Internetkurse und viele Maßnahmen mehr lassen es geradezu als Herkulesaufgabe erscheinen, jeglicher Bildung auszuweichen und vorzuschützen, wehrloses Opfer der Gesellschaft zu sein. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist Bildung keine Bring-, sondern eine Holschuld.

Linktipps für Betroffene

Kostenloses Internetportal für Menschen mit Schwächen beim Lesen, Schreiben oder Rechnen:

www.ich-will-lernen.de

Anonyme Beratung und Information rund um Alphabetisierung:

www.alfa-telefon.de

Tarnen und Täuschen: Überlebensstrategie vieler Analphabeten

Was für die meisten von uns unvorstellbar erscheint ist weniger die Frage, wie es zu Analphabetismus kommen kann. Bass erstaunt grübelt man angesichts dessen, dass statistisch gesehen zahlreiche Mitmenschen aus dem Bekanntenkreis oder dem Arbeitsumfeld kaum lesen und schreiben können, darüber nach, wie sie den Alltag trotzdem bewältigen. Gewiss: Piktogramme erleichtern das Zurechtfinden in vielen Situationen. Doch ohne ausreichende Lese- und Verständniskompetenz kann selbst ein simpler Fahrplan zum unlösbaren Mysterium werden.

Die "Lösung": Tarnen, täuschen, ausweichen! Bestimmt haben Sie Situationen wie diese schon einmal erlebt: Jemand bittet Sie oder die Verkäuferin im Supermarkt, ihm oder ihr vorzulesen, was auf der Verpackung steht, da er oder sie die Brille zu Hause vergessen habe. Vielleicht wurden Sie auch schon einmal von einem Bekannten gebeten, ihm beim Ausfüllen eines Formulars zu helfen, da er dieses Behördenkauderwelsch einfach nicht verstehe. Möglicherweise ersuchte Sie eine gute Freundin, ihr doch bitte einen Brief zu schreiben, da Sie beim Formulieren einfach viel phantasievoller seien oder sie sollten ihr beim Verfassen der Kündigung für den Handyvertrag unter die Arme greifen.

Analphabetismus: Wenn einem der ...

Analphabetismus: Wenn einem der Supermarkt chinesisch vorkommt (Bild: http://pixabay.com)

Natürlich können die angegebenen Gründe stimmen und der eine Hilfesuchende tatsächlich seine Lesebrille zu Hause liegen gelassen haben und der andere von der Angst beseelt sein, das Formular falsch auszufüllen. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich dahinter eine erhebliche Lese- und Schreibschwäche bis hin zu Analphabetismus verbarg. Doch warum dieses Versteckspiel? Dies liegt an der nachvollziehbaren Scham der Betroffenen. In Ländern, wo jeder Tag ein Kampf um ausreichende Nahrung oder Trinkwasser ist, zählt Analphabetismus zweifellos zu den Luxusproblemen. Ganz anders in Deutschland: Wer kaum lesen und schreiben kann, obwohl er hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, erhält rasch das Etikett des Schwachkopfs. Und Hand aufs Herz: Wer könnte diese Angst nicht verstehen?

Um der Schmach zu entgehen, stricken viele Betroffene ein Lügengespinst rund um ihre Lese- und Schreibeschwäche. An Erfindungsreichtum und Ausreden mangelt es dabei nicht. Kleine Tricksereien wie die angeblich verlegte Brille zählen zum Standardrepertoire. Um die Tarnung aufrecht zu erhalten, werden von manchen Analphabeten unglaubliche Anstrengungen unternommen. Bei einem Restaurantbesuch etwa wird nach angeblichem Studium der Speisekarte dasselbe Gericht wie jenes der Begleitung ausgewählt.

Einfacher ist das Einkaufen im Supermarkt: Bekannte Verpackungen oder Flaschen werden in den Einkaufswagen gelegt, notfalls befragt man eine Verkäuferin. Manche Betroffene merken sich zudem die Formen und Längen von Wörtern. Akribischer wird etwa der Führerschein geplant, indem die Fahrschulbögen für den theoretischen Prüfungsteil buchstäblich auswendig gelernt wird.

Doch selbst der größte Erfindungsreichtum kann nicht vor der "Aufdeckung" schützen. Wer ständig seine Brille vergisst, immer wieder um denselben Gefallen bittet, stets ein und dasselbe Menü auswählt, jede Weiterbildungsmaßnahme des Arbeitgebers ausschlägt, da man leider private Termine habe oder die Fahrstrecke zu weit sei, der läuft Gefahr, entlarvt und als "Dummkopf" entlarvt zu werden. Mit wohl keiner anderen Schwäche kann man sich in einem Industriestaat wie Deutschland souveräner ins gesellschaftliche oder berufliche Out befördern, als mit Analphabetismus. Entsprechend verkrampft und mit Angst behaftet sind harmlose Freizeitaktivitäten mit Familie oder Freunden. Schließlich könnte irgendwann der Tag kommen, an dem einem die Freunde bitten, mal schnell die Organisation einer Zugfahrt zu übernehmen oder spontan an einer unterhaltsamen Spielerunde "Trivial Pursuit" oder "Monopoly" teilzunehmen.

Stärkung des Selbstbewusstseins

Dabei ist vielen Analphabeten oft gar nicht bewusst, dass jene Energie, die sie viele Jahre lang in ihre Vermeidungsstrategien gesteckt haben, dazu dienen könnte, ihr Problem binnen kürzester Zeit zu lösen. Analphabetismus ist schließlich kein unabwendbares Schicksal, benötigt keine speziellen Fähigkeiten oder körperliche Voraussetzungen, und kann auch "im Alter" erlernt werden. Verständlicherweise können Scham und Angst davon abhalten, sich dem Problem endlich zu stellen und einen Alphabetisierungskurs zu besuchen.

Am Wichtigsten ist für Betroffene die Erkenntnis, dass sie weder alleine mit ihrer Schwäche sind, noch, dass es irgendeinen plausiblen Grund dafür gibt, sich weiter mit Lügen und Schamgefühlen durchs Leben zu schlagen. Im Gegenteil: Eine Erweiterung des Bildungshorizonts stärkt das Selbstbewusstsein und ist Balsam für die meist unsichere Seele eines Analphabeten.

Nur wer lesen und schreiben kann, vermag vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ohne sich selbst Einschränkungen auferlegen oder ständig Ausreden und Lügen erfinden zu müssen.

Während es früher durchaus möglich war, auch ohne des Lebens und Schreibens kundig zu sein ein ganz "normales" Leben zu führen, ist dies in einer modernen Gesellschaft kaum noch möglich. Bereits die Berufswahl verlangt nach diesen grundlegenden Kulturfähigkeiten. Die klassischen Fließband- oder Hilfsarbeiterjobs, bei denen man auch dann reüssieren konnte, wenn man lediglich seinen eigenen Namen unter den Arbeitsvertrag zu setzen vermochte, sind großteils ausgelagert worden. Ganz zu schweigen von unvermeidbaren Behördengängen, dem Lesen und Verstehen von Bedienungsanleitungen, der Verwaltung des Bankkontos und vielem mehr, das einen Industriestaat wie Deutschland nun einmal auszeichnet.

Von wegen "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"

Von niemandem wird verlangt, großartige Literatur verfassen oder Klassiker wälzen zu müssen. Selbst wer niemals ein Buch zur Hand nimmt – einer der mächtigsten österreichischen Politiker hatte einst sogar zugegeben, nur ein einziges Buch in seinem Leben gelesen zu haben – kann ein erfolgreiches, erfülltes Leben führen. Genauso wenig, wie Addieren oder Subtrahieren nach einem Verständnis für Höhere Mathematik verlangen, muss die Fähigkeit des Lesens und Schreibens Begeisterung für Literatur hervorrufen. Zweifellos zieht die Absenz dieser grundlegenden Fähigkeit aber Beeinträchtigungen der Lebensqualität, beruflicher Aufstiegsmöglichkeiten oder gesellschaftlichen Ansehens nach sich.

Vielleicht – und um erneut die Statistik zu bemühen: Ganz bestimmt sogar! – kennen sie Menschen mit erheblichen Lese- und Schreibschwächen. Was können Sie tun, um diese zum Besuch eines Alphabetisierungskurses zu bewegen? Erzeugen Sie keine Angstbilder ("wenn dein Kind in die Schule kommt, wird es merken, dass du nicht lesen und schreiben kannst und sich deiner schämen"), sondern motivieren Sie und machen Sie ihnen stattdessen Mut:

  • Es ist nie zu spät, Neues zu erlernen oder Verlerntes aufzufrischen
  • Analphabeten sind mit ihrem Problem nicht allein
  • Alphabetisierungskurse werden teils sogar kostenlos und als Online-Kurse im Internet angeboten
  • Endlich ohne Angst vor einer "Entlarvung als Analphabet" durchs Leben gehen zu können
  • Vorbild für die eigenen Kinder sein und ihnen den Wert von Bildung mitgeben

Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Bildungsschwächen kein Schicksal sind, sondern mit dem nötigen Fleiß und Ehrgeiz gerade im Informationszeitalter behoben werden können.

Autor seit 13 Jahren
815 Seiten
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