Was ist die amerikanische Realität?

Die meisten Reality-Shows zeigen dumme, oberflächliche, engstirnige Menschen, die das Interesse der Fernsehgesellschaften als Bestätigung ihrer Lebensphilosophie betrachten. Je dümmer, je lauter - desto besser. Der Slogan des TV-Channels Oxygen - "Live out loud!" (in etwa: Mach Lärm im Leben!) - scheint zu suggerieren: Brüll' erst - denk' später. Ob Mütter ihre Kleinkinder durch Schönheitswettbewerbe jagen, Teenager oder Bräute sich wie wahnwitzige Egozentriker verhalten, "echte" Hausfrauen sich wie verwöhnte Fratzen benehmen... spielt keine Rolle, solange es möglichst laut, extrem und schockierend präsentiert wird.    

Ebenso erschreckend ist die Fascination der Zuschauer mit solchen Shows. Einerseits erkennen sie sich wahrscheinlich selbst in diesen fiesen Rollenmodellen, andererseits träumen sie vielleicht von der perversen Geldverschwendung der aufgedonnerten Hollywood Plastikpuppen.

Eines ist klar: Amerika träumt, allerdings von einer Welt, die mit dem ursprünglichen American Dream nicht mehr viel gemeinsam hat. Im Gegenteil: Amerikaner haben sich von den wirklichen Zuständen im Land weitgehend distanziert. Die Frage ist nur:

Sind Realitätsfremdheit und Apathie die Gründe für Amerikas Misere oder haben die Bürger ihre Ideale verloren, weil Kapitalismus, Korruption und Konsumentenvergewaltigung (hmm... ein moderner KKK?) die Nation in den Abgrund stürzten?  

So sieht Amerika heute aus - Meldungen aus der New York Times der letzten 3 Jahre

  • Mehr als ein Viertel aller Brücken weisen strukturelle Unsicherheiten auf.
  • Schadhafte Wasserrohre verlieren täglich etwa 8 Milliarden Liter Trinkwasser.
  • 75% aller öffentliche Schulen befinden sich in mangelhaften (wenn nicht abbruchreifen) Gebäuden.
  • Täglich schließen mehrere Kindergärten, Altersheime und Notkrankenhäuser in bedürftigen Regionen, weil staatliche Unterstützungen abgeschnitten wurden.
  • Etatkürzungen zwingen die Polizei, sich nur auf Gewalttaten zu konzentrieren und Betrug, Einbruch oder Diebstahl weitgehend zu ignorieren.
  • 43.6 Millionen Amerikaner leben in Armut.
  • Die USA ist der einzige Industriestaat, in welchem die Kinder schlechtere Chancen für einen Schulabschluß haben als ihre Eltern. Sogar Südkorea und Slowenien haben bessere Statistiken. 
  • 30 Millionen Amerikaner weisen deutliche Leseschwächen auf.

Das Resultat: Eine ständig wachsende Bevölkerungsschicht von Hilfsarbeitern, die von den Machthabern leicht zu manipulieren sind.

Wenn die Realität nicht bequem ist...

Ein Jogger läuft durch die Innenstadt. Gut sieht er aus mit den neuesten Nike-Schuhen, Stirnband und iPod am Oberarm. Das Flaschenwasser am Gürtel soll sein Image als Gesundheitsapostel vervollständigen. Womöglich ist es auch eine Frau, die ihr Kleines in einem speziellen Jogger-Stroller vor sich her schiebt. Ich trete zur Seite, um diese Götterbild von Fitness und Gesundheit vorbei rauschen zu lassen. Dabei atme ich aus: Ein Wölkchen lungengefilterten Zigarettendunst. Wenn Blicke erst belehren und dann töten könnten...

Wenige Meter weg sausen Hunderte von Fahrzeugen vorbei. Großstadtverkehr bedeutet täglich Millionen von Kubikmetern Giftgas, welches uns in einer geschlossenen Garage binnen Minuten umbringen würde.

Ärzte sagen, daß Joggen in der Stadt gefährlicher als 1 Schachtel Zigaretten am Tag sei. (Und die Flasche enthält kostenloses Leitungswasser aus Houston, das in Austin nun $1.95 kostet. Pro Flasche.)

Es sind Professoren, Studenten, Rechtsanwälte, Lehrerinnen... keine dummen Leute, die diesen Unsinn mitmachen. Ignoranz hat nicht unbedingt etwas mit Intelligenz zu tun. Wir lösen uns geistig vom Wald, weil uns nur ein kleines Bäumchen interessiert. Und so drückt sich diese Einstellung auf nationaler Ebene aus: 

  •  Infrastruktur wird überhaupt nicht diskutiert.
  • Das Gesundheitssystem ist ein politisches Spiel der Mächte - ohne Ergebnisse. In Amerikas Krankenhäusern sterben jährlich 90.000 Menschen durch Infektionen, die sie vorher nicht hatten. 200.000 (jährlich!) fallen ärztlichen Fehlern zum Opfer.
  • Der US-Militärhaushalt ist größer als kombiniert der aller anderer Länder. Er finanziert Maßnahmen, die nichts gewinnen und nur Unruhe in der Welt schaffen. Die Selbstmordrate unter Veteranen ist der feuchte Traum aller Feinde Amerikas.
  • Der Meeresspiegel steigt. In relativ kurzer Zeit werden ganze Städte versinken und Millionen Menschen obdachlos werden. Als "Gegenmaßnahme" verlangte die Regierung des Staates Virginia, daß alle Referenzen zu Klimawechsel und Meeresspiegelanstieg aus offiziellen Dokumenten zur Untersuchung von Ũberflutungsproblemen gestrichen werden. Die Begründung? Es seien Propagandaausdrücke der "Linken"! Wissenschaftler sprechen von einem Mindestanstieg von fast 2 Metern bis zum Jahre 2100. Amerika wird absaufen und die Politiker sprechen von "Sozi-Propaganda".

  

Wie ist der Vergleich mit Deutschland?

Gibt es Hoffnung für Amerika und den amerikanischen Traum?

Falls die "Occupy"-Bewegung nicht einschläft und sich sogar noch weiter ausbreitet - ja, es besteht ein Funken Hoffnung.

Falls Obama Präsident bleibt und sich endlich zu großen Taten aufschwingen kann - ja, es könnte wieder bergauf gehen.

Falls die Demokraten danach weiter regieren dürfen und sich endlich gegen die Republikaner durchsetzen können - ja, dann darf man vielleicht auch wieder zu träumen anfangen.

Falls Mitt Romney und die Republikaner die heurige Präsidentenwahl gewinnen - gute Nacht, Amerika! Alles, was ich oben beschrieben habe, wird noch schlechter werden und die einst größte Nation der Welt wird für Jahrzehnte ausgeträumt haben. Nachdem ich bereits 63 Jahre alt bin, werde ich den neuen amerikanischen Traum wohl nicht mehr miterleben.

chefkeem, am 21.08.2012
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Bildquelle:
Reisefieber (Dezember in Goa, Indien)

Autor seit 13 Jahren
109 Seiten
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