Weihnachten seid ihr wieder zuhause!

Wo der später als "Weihnachtsfriede von 1914" benannte Waffenstillstand begann, kann nicht mehr genau gesagt werden. Auch die Initiatoren sind unbekannt, ebenso wie die Anzahl der Soldaten, die sich dem Weihnachtsfrieden angeschlossen hatten. Waren es einige Tausend? Oder gar Zehntausende? Die offiziellen Aufzeichnungen zu den berührenden Szenen an der West-, teils auch der Ostfront sind spärlich. Während die britische Presse die Ereignisse aufgriff, allerdings drauf hinwies, dass es sich lediglich um unbedeutende Akte kurzzeitiger Verbrüderung gehandelt habe, verschwieg die deutsche Seite das "Weihnachtswunder" komplett, wohl um die Kriegsmoral nicht zu untergraben.

Ein sinnloses Unterfangen, hatte sich doch Kaiser Wilhelm II im August 1914 zum kühnen Versprechen an seine Soldaten verstiegen: "Weihnachten seid ihr wieder zuhause!"

Alltag im Schützengraben - fernab ...

Alltag im Schützengraben - fernab romantisierenden Heldengeschwafels (Bild: http://pixabay.com/)

Der Weihnachtsfriede 1914 bricht aus

Tatsächlich war im Dezember 1914 sowohl Soldaten, als auch daheim ohne ihre Väter, Brüder und Söhne Weihnachten feiernden Familien klar, dass der Krieg sich noch lange dahinziehen würde. Vielleicht war es die Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung über die eigene Heeresführung, die den zündenden Funken hervorbrachte, der in eben jenem leider nur kurz währenden Weihnachtswunder mündete. Denn selbst dem schlichtesten Soldatengemüt war klar, dass sich der auf eine kurze Kriegsdauer ausgelegte Schlieffen-Plan als Fehlschlag herausgestellt hatte. Insbesondere an der Westfront verharrten die Kriegsparteien aussichtslos in ihren Schützengraben.

Und doch: Irgendwo an der Westfront, viele vermuten die kilometerlangen Frontverläufe nahe der belgischen Stadt Ypern, waren Soldaten müde des immer sinnloser scheinenden Schlachtens in den von Ungeziefer und Ratten wimmelnden, von Stacheldrahtverhauen umgebenen Schützengräben, wo der Tod der treueste Begleiter war. Ausgerechnet die von der deutschen Heeresleitung zur Hebung der Moral gestifteten kleinen Tannenbäumchen trugen das ihre zum Weihnachtsfrieden bei.

War es bereits Tage vor dem Weihnachtsfest zu inoffiziellen Waffenruhen gekommen, um im Niemandsland zwischen den Fronten Verwundete oder Gefallene der keine Entscheidung herbeiführenden Angriffe und Gegenangriffe zu bergen, begann sich kurz vor Heiligabend das Weihnachtswunder abzuzeichnen.

Geschütze an der Front

Geschütze an der Front (Bild: http://pixabay.com/)

Am Ungewöhnlichsten erscheint rückblickend, dass es sich um keine geplante Aktion handelte, sondern spontan entstand. Soldaten stellten Weihnachtsbäume oder Kerzen auf die Grabenränder und intonierten Weihnachtslieder, was vom Kriegsgegner mit Applaus bedacht wurde. Einige Soldaten der Kaiserlichen Armee warfen anstatt Handgranaten Kuchenstücke in die britisch-französischen Stellungen, manche mit der schriftlichen Bitte um abendlichen Waffenstillstand versehen.

Analog zu den Kettenreaktionen von Kriegserklärungen, erfolgte binnen kürzester an weiten Frontabschnitten ein sich rasch ausbreitender, zunächst gespenstischer Waffenfriede. Anfangs wollte man dem Frieden nicht ganz trauen. Doch als die Waffen auch am Morgen des 24. Dezember schwiegen, wagten sich viele Soldaten aus den Schützengräben heraus, um dem Kriegsgegner ohne Tötungsabsicht oder Angst gegenüberzutreten.

Keine Kriegsgerichtsverfahren trotz Befehlsverweigerungen

Jene Szenen spontaner Verbrüderung erscheinen noch heute kaum vorstellbar. Nach dem monatelangen Morden mit hunderttausenden Toten alleine an der Westfront, feierten Soldaten der deutschen, britischen und französischen Armeen Heiligabend ausgerechnet inmitten einer von Granaten entstellten Kraterlandschaft, in deren Erde das Blut unzähliger Soldaten und Zivilisten geflossen war. Dabei waren es beileibe nicht nur einfache Soldaten, die sich an dem Weihnachtsfrieden beteiligten: Auch deutsche und englische Offiziere suchten zögerlich, aber doch die Aussöhnung mit dem Feind. Einige sollen sogar ausdrücklich den Waffenstillstand befohlen haben, was mit einem Kriegsgerichtsverfahren hätte geahndet werden können.

Mahnmal an die Schlacht um Verdun

Mahnmal an die Schlacht um Verdun (Bild: http://pixabay.com)

Auch dies ist ein wundersamer Aspekt des Weihnachtsfriedens von 1914: Es ist kein einziger Fall einer Verurteilung vor dem Kriegsgericht bekannt, obwohl man sämtlichen Beteiligten Befehlsverweigerung vorwerfen hätte müssen. Denn auf keiner Seite gab es irgendeinen autorisierten Befehl, während des 23. und 24. Dezembers die Waffen ruhen zu lassen. Doch während offiziell an allen Frontabschnitten erbittert und tapfer um den Sieg im "Großen Krieg", wie er vor allem auf britischer Seite bezeichnet wurde, gekämpft wurde, herrschte insbesondere an der Frontlinie zwischen Mesen und Nieuwkapelle ein geradezu unmöglicher Weihnachtsfriede.

Weihnachtslieder im Schützengraben

Ermöglicht wurden die gar wundersamen Verbrüderungen durch die kulturelle und sprachliche Nähe der Deutschen und Österreicher insbesondere zu den Briten. Viele deutsche Soldaten verstanden und sprachen zumindest einige Brocken Englisch oder hatten vor dem Krieg sogar in Großbritannien gelebt und gearbeitet. Eine Anekdote berichtet von einem Engländer, der seinen deutschen Friseur aus London wiedererkannte, welcher das Land nur wenige Monate zuvor hatte verlassen müssen. Angeblich schnitt ihm der Deutsche nach der Wiedersehensfreude die Haare.

Ironischerweise fühlten sich vor allem Österreicher und Bayern den Briten gegenüber oft verbundener als mit den preußischen Kameraden, die meist als steif und arrogant betrachtet wurden. Auch und gerade traditionelle Weihnachtslieder wirkten frontübergreifend, da die Melodien über die Grenzen hinweg bekannt waren, wie das Joseph Mohr zugeschriebene "Stille Nacht, heilige Nacht", das den Briten als "Silent Night", den Franzosen als "Douce nuit, sainte nuit" bekannt war.

Ebenso traditionell wie die Weihnachtslieder waren einige der Geschenke für den Kriegsgegner: Die Deutschen beglückten die Briten und Französen mit Bier, die Briten revanchierten sich mit Plumpudding. Fast wäre man geneigt zu sagen "natürlich" wurde Fußball gespielt, das bereits vor 100 Jahren britischer sowie deutscher Nationalsport war. Angeblich sollen die Deutschen das Spiel gewonnen haben, ganz wie Englands Fußballlegende Gary Lineker später sagen sollte: "Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans win."

Ob diese Überlieferung den Tatsachen entspricht, ist umstritten. Unbestritten ist der Symbolgehalt der ausgelassen Fußball spielenden Soldaten. Kein anderes Ereignis während des Weihnachtsfriedens ist bekannter als das Fußballspiel im Niemandsland zwischen den Schützengräben.

Umstrittener Weihnachtsfriede

Am Heiligen Abend feierten tausende Soldaten gemeinsame Messen. Es muss ein gleichsam berührender, wie unheimlicher Anblick gewesen sein, wie in der zerbombten Mondlandschaft bis aufs Blut verfeindete Soldaten andächtig Weihnachtslieder sangen, die Heilige Messe begingen und gewissermaßen nebenher ihre gefallenen Kameraden begruben. Noch unvorstellbarer ist, wie subversiv der Weihnachtsfriede von 1914 war. Tausende – manche Historiker gehen von bis zu 100.000 teilnehmenden Soldaten aus – ignorierten ihre Befehle und verbrüderten sich spontan mit dem Todfeind.

Obwohl nur wenige dieser Ereignisse nach Hause durchsickern, hinterlassen sie so manchen prägenden Eindruck. So beschrieb seinerzeit Arthur Conan Doyle, berühmt für seine Sherlock-Holmes-Geschichten, den Weihnachtsfrieden mit den Worten: "One human episode amid the atrocities” (Auf Deutsch etwa: "Eine Episode der Menschlichkeit inmitten der Gräueltaten").

Freilich stieß das "Weihnachtswunder" nicht auf ungeteilte Begeisterung. Auf beiden Seiten gab es empörte Stimmte über den "Verrat" und die "Disziplinlosigkeit". Empört über den Weihnachtsfrieden zeigte sich unter anderem ein österreichischer Gefreiter. Sein Name: Adolf Hitler.

Jähes Ende des Weihnachtsfriedens

So unvermittelt er ganze Frontabschnitte im Sturm erobert hatte, so rasch endete der Waffenstillstand wieder. Bereits am Tag nach dem Heiligen Abend kam es an weiten Frontabschnitten wieder zu Gefechten. Der brüchige Friede soll manchenorts bis in den frühen Jänner 1915 hinein gedauert haben, ehe der Alltag des zermürbenden Wartens auf den nächsten Angriff wieder Einzug in die Schützengräben hielt.

In Erinnerung an den ungewöhnlichen Waffenstillstand versuchten sich am Heiligen Abend 1915 einige Soldaten an einer Wiederbelebung des Weihnachtsfriedens. Diesmal drückte die Heeresführung aber kein Auge zu. Wohl nicht zu Unrecht fürchteten beiden Seiten eine Zersetzung der Kampfmoral und drohten im Falle der Waffenniederlegung und Verbrüderung anders als noch im Vorjahr mit dem Kriegsgericht.

Trügerischer Weihnachtsfriede in Stalingrad 1942

Auch wenn der Weihnachtsfriede von 1914 kein einmaliges Ereignis war, so lag ihm doch eine besondere Bedeutung inne. Spontane Waffenstillstände oder gemeinsame Feierlichkeiten mit dem Kriegsfeind waren aus vielen vorhergehenden Konflikten bekannt.

 

Allerdings waren die meisten Kriege zuvor auf konventionelle Weise mit Gefechten Mann gegen Mann geführt worden. Der Erste Weltkrieg verdient sich seine Bezeichnung als erster moderner Krieg durch die Automatisierung des Tötens: Für ihre Zeit präzise Waffensysteme, Panzer und Flugzeuge sowie chemische Waffenführung drückten dem Kriegsgeschehen einen bis dato unbekannten Stempel auf. Der Tod konnte die Soldaten jederzeit ereilen, erstmals auch aus der Luft.

Bezeichnenderweise waren es die Frontstellungen in Ypern, bei denen drei Jahre nach dem Weihnachtsfrieden erstmals Senfgas eingesetzt wurde. Gerade inmitten dieser nie gekannten Möglichkeiten des Tötens und Verstümmelns schien ein solcher spontaner Waffenstillstand unvorstellbar.

Auch 28 Jahre später, am Heiligen Abend 1942, schwiegen rund um das von der Wehrmacht besetzte Stalingrad die Waffen weitgehend. Die Ausgangslage war jedoch nicht mit jener von 1914 vergleichbar, da die 6. Armee unter General Paulus bereits völlig demoralisiert war und unter eklatantem Nahrungsmangel litt. Makabrerweise mangelte es den noch nicht aufgeriebenen Truppenresten an einem nicht: An festlich geschmückten Weihnachtsbäumen.

Merry Christmas!

Zwar hatte der Weihnachtsfriede von 1914 keinerlei Einfluss auf das Kriegsgeschehen, ganz zu schweigen davon, dass er tatsächlich das Wunder einer generellen Waffenniederlegung vollbracht hätte. Aber er ist noch hundert Jahre später ein Symbol für Menschlichkeit in Zeiten des Wahnsinns. Neben mehreren Büchern zu diesem Thema erschien 2005 der auf den realen Ereignissen basierende Film "Merry Christmas" (Originaltitel: Joyeux Noël), der 2006 für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert worden war.

Ihren wohl berühmtesten Eingang in die Popkultur fanden die Ereignisse 1983 mit Paul McCartneys Song "Pipes of peace", seinem letzten Nummer-Eins-Hit in Großbritannien. Im dazugehörigen Musikvideo nahm der Ex-Beatle direkten Bezug auf das Weihnachtswunder.

Rückblickend betrachtet erinnert uns diese Episode aus einem der verheerendsten Kriegen der Menschheit daran, dass wir den Frieden nicht als selbstverständlich erachten sollten und auch unter widrigsten Umständen Menschlichkeit das Gebot der Stunde sein muss.

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