Nicht die Symptome bekämpfen, sondern die Krankheit erkennen

Es geht um etwas, das viel grundlegender ist: den verheerenden Irrtum, Kunst mit Maßstäben des Marktes zu messen, was unweigerlich zu ihrer Entmündigung führt und zum Verlust ihres eigentlichen Wertes. Denn dies ist die eigentliche Krankheit. Alle Entwicklungen, wie sie oben beschrieben und so oder so ähnlich ja häufig diskutiert werden, sind nur Symptome, weshalb auch die wohlgemeintesten Debatten über eben jene Phänomene nichts bewirken, da sie sich eben um die Auswirkungen drehen, nicht um die Ursache des Übels: das Bewerten von Kunst nach den Maßstäben des Börsenhandels.

Korvin Reich: Der Geist ist keine Dividende
Korvin Reich: Der Geist ist keine ...

Korvin Reich: Der Geist ist keine Dividende (Textzeichnung, Filzstift auf Leinwand) (Bild: Korvin Reich)

Die Konsequenzen von marktorientiertem Kunstdenken

Verlage, Plattenfirmen, Konzertveranstalter - alle sind eifrig bemüht, das System zu bedienen und auf Gewinn zu arbeiten. Es bleibt ihnen ja auch scheinbar nichts anderes übrig, denn jeder muss etwas essen und seine Miete zahlen und viele haben etliche Bedürfnisse darüber hinaus, die bedient werden wollen. Aber funktioniert das?

Ja, wenn man einverstanden damit ist, dass Musik - und man kann diese Aussagen getrost ausweiten auf andere Künste und deren Institutionen - eine Ware ist wie das neueste elektronische Spielgerät, dass man wegwerfen oder austauschen kann, sobald ein neueres, schickeres, noch spektakuläreres zu haben ist. Dies führt dann eben dazu, dass kaum mehr junge Künstler von Verlagen, Plattenfirmen, Galerien in Ruhe und mit Augenmaß aufgebaut werden, um eine kontinuierliche Entwicklung und ein dauerhaft hohes Niveau zu sichern. Künstlern wird kaum noch die Möglichkeit zu geben, nicht nur pekuniär (wenn überhaupt), sondern auch inhaltlich, emotional von ihrer Kunst leben zu können, Erfüllung zu finden. Denn dazu muss man sich vertiefen können, anstatt an der Außenwirkung arbeiten zu müssen. Nein: heute werden Raketen hochgeschossen und deren Verglühen schon kaum mehr bemerkt, weil man ja längst zur nächsten schaut, um ja keine Verdienstmöglichkeit zu verpassen. 

Jahrhundert-Musiker wie ein David Oistrach hätten womöglich kaum Chancen einen Vertrag bei einer renommierten Plattenfirma zu bekommen, ist doch eines der obersten Kriterien heute offenbar jugendlich-erotisches Aussehen. Wer kann sich schon Oistrach mit aufgeknöpftem Hemd, lächelnd und posierend wie einen Popstar vorstellen oder Kirsten Flagstadt im durchsichtigen, hochgeschlitzten Kleid lasziv über den Flügel gebeugt? Und warum auch? Ihre Kunst spricht doch für sich. Doch dies reicht heute nicht. 

Die Anbetung der Verkaufbarkeit auf Kosten der künstlerischen und menschlichen Substanz hat viele Facetten. Zugesicherte Absprachen mit Autoren oder Künstlern werden nicht eingehalten, Bühneninszenierungen ähneln häufig kleinen (oder großen) Materialschlachten, da man das Vertrauen in die Substanz der Werke verlernt hat und Konzertveranstalter glauben, sie dürften dem Publikum nur vorsetzen, was dieses ohnehin schon kennt (wobei ich noch nie verstanden habe, warum man das Publikum immer für dümmer hält, als es eigentlich ist). Verfolgt man die Programme der sogenannten Kultursender im Rundfunk, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als seien in den vergangenen 4 Jahrhunderten nur ca. zwei bis drei Duzend Werke von einer guten Handvoll Komponisten geschrieben worden, so schmal ist das Programm geworden: immer wieder die gleichen "Hits", nur ja den Hörer nicht fordern oder gar bilden.

Eine andere Facette ist die Sucht nach Sensation als Mittel der Vermarktung. Diese führt inzwischen sogar dazu, dass großartige Künstlerpersönlichkeiten sich nicht scheuen, der "Besonderheit" willen eine Johannespassion aufzuführen, die wohl musikalisch auf hohem Niveau ist, aber in einer Inszenierung aufgeblasen wurde, in der sich der Chor im Eingangschor sinnlos am Boden wälzt, was bei dieser starken Musik weder nötig noch hilfreich ist, zudem lächerlich aussieht, aber eben aufgrund des Sensationswertes Kasse macht. 

Der eigentliche Wert von Kunst

Wenn man mit all diesem einverstanden ist, ja dann funktioniert es, Kunst als Ware und Musik als Markt zu betrachten.

Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Kunst ein sublimierter Ausdruck unseres Seins, unseres Lebensgefühls ist, derjenigen Ebenen unseres Lebens, die sich eben nicht in Zahlen und herkömmlichen Wertmaßstäben messen lassen, wenn man daran glaubt, dass Kunst die Menschen im Innersten berühren, in Kontakt mit sich selber bringen und nicht nur berieseln oder schockieren soll, dass Kunst einen Wert an sich bekommt durch ihre Qualität, jenseits von Gewinn-Verlust-Rechnungen, und dass ihr Gewinn eben genau in dieser Tatsache liegt, dann sieht man, dass es nicht funktioniert und dass "Der Markt" unsere große Musik- und Kunsttradition gerade herzhaft zugrunde richtet.

Liegt nicht das Große in der Kunst genau darin, dass sie in uns Ebenen berührt, die frei sind von Gier und Besitzdenken, Bereiche, in denen es um das pure Sein geht?

Was tun?

Was aber ist nun zu tun? Ich weiß es nicht.

Wenn wir Künstler es schafften, unsere Kunst unabhängig von den "Zwängen des Marktes" zu machen, wäre dies der richtige Schritt, doch selbst bei den bescheidensten Ansprüchen: essen muss man und die Miete zahlen. Es scheint also, als gäbe es keine Chance, etwas zu ändern. Es scheint so, aber ich glaube es noch nicht.

Möglicherweise hat man uns so lange gelehrt, nur in den Mustern dieses marktorientierten Systems zu denken, dass wir es erst wieder lernen müssen, andere Modelle denken zu können. Im Kommunismus hieß es in einem Propaganda-Lied: "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht" und solche Texte betrachten wir heute zu Recht kopfschüttelnd, doch vergessen wir dabei, dass sich in Wahrheit in diesem Punkt nicht viel geändert hat außer der Tatsache, dass "Die Partei" durch "Der Markt" ersetzt werden muss.

Das Mäzenatentum ist hierzulande nach den beiden Weltkriegen de facto tot. Das bedingungslose Grundeinkommen ist noch Vision, wenn auch überfällig, denn es würde jedem Menschen erlauben, sich wirklich zu verwirklichen, es hülfe gegen den Mangel durch Überfluss, in dem wir momentan leben. Es kann aber keine Lösung sein, darauf zu warten, denn natürlich werden sich jene, die die Macht haben, und die von dem System der Markthörigkeit profitieren, so lange wie möglich weigern, in diese Richtung zu denken, - sie würden ja genau eben diese ihre Machtposition gefährden, hätten sie plötzlich mündige, unabhängige Bürger.

Es bleibt also nur, nach alternativen, auch individuellen Ansätzen zu suchen. 

Eine neue Kreativität ist zunächst gefragt, die nicht auf das Erfinden von Klang und Bild gerichtet ist, sondern darauf, wie es möglich ist, heute unabhängig von den Zwängen eines kunst-feindlichen Systems ernsthaft schaffen zu können.

Fassen wir Mut!

© C. René Hirschfeld 

Welche Möglichkeiten seht Ihr? Tobt Euch aus! Ich antworte auch gern und freue mich über konstruktive Kommentare.
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