Cover "Ein Tick anders"

Scheiß Bank!

Die hübsche, intelligente Eva (Jasna Fritzi Bauer) könnte auf den ersten Blick wie ein ganz normaler Teenager durchgehen. Aber nur so lange, bis sie Grimassen schneidet und obszöne Schimpfwörter heraussprudelt. Denn Eva leidet am unheilbaren Tourette-Syndrom. Aus der Schule wurde sie ebenso ausgeschlossen, wie aus der kleinkarierten Gesellschaft, die mit ihrer Erkrankung völlig überfordert ist. Nur ihre schräge Familie weiß mit den Ticks und den Obszönitäten umzugehen und akzeptiert sie so, wie sie ist.

Das Schicksal scheint es auch weiterhin nicht gut mit ihr zu meinen: Zunächst stolpert sie im Wald über eine Leiche und kann auf der Polizeiwache nur mit viel Mühe die Sachlage schildern. Danach verliert ihr Vater (Waldemar Kobus, "Halvar von Flake" aus Herbigs "Wickie"-Filmen ) seinen Job als Autoverkäufer und steht vor dem finanziellen Ruin, nachdem der Filialleiter (Falk Rockstroh) seiner Hausbank zu keinen Zugeständnissen bereit ist. Zwar findet Evas Vater einen neuen Job. Doch würde dieser den Umzug nach Berlin bedeuten - für Naturfreundin Eva kommt dies nicht in Frage! Gemeinsam mit Onkel Bernie (Stefan Kurt), der sich mit Gaunereien über Wasser hält, ersinnt sie Pläne, wie sie rasch zum nötigen Geld gelangen könnten, um das geliebte Familienhaus zu retten. Ein Auftritt vor einer Casting-Jury scheitert kläglich. Also hecken die beiden einen kühnen Plan aus, der ihre Probleme auf einen Schlag lösen soll...

Trailer "Ein Tick anders"

Gar nicht nett: Tourette

Krankheiten spielen in Filmen seit jeher eine bedeutende Rolle. Je tragischer, desto besser! Welcher herzlose Kritiker - zufällig anwesende ausgenommen - würde es schon wagen, zu Tränen rührende Kitschfilme über an Krebs erkrankte oder atomar verstrahlte Kinder als emotionale Erpressung zu bezeichnen? Besonders dankbar werden eher seltene Krankheiten porträtiert, etwa Autismus ("Rain Man") oder wie in diesem Falle das Tourette-Syndrom. Gerade letzteres bietet den unschlagbaren Vorteil, die Tragik der Erkrankung mit obszönen Witzeleien zu mischen, die in anderen Filmen unmöglich durchgingen. Eine 17-jährige, die arglose Pilzsucher als Kinderficker beschimpft, Nachbarinnen mit einem herzlichen "Guten Tag, ihr blöden Nutten" begrüßt oder beim Reifenhändler einem ehemaligen deutsch-österreichischen Politiker viel Gesundheit wünscht, kann nur im Rahmen eines Filmes à la "Ein Tick anders" als Sympathieträger geschildert werden.

 

Ralf Huettners Überraschungserfolg "Vincent will Meer" hatte 2010 mit einer ähnlichen Prämisse für volle Kinosäle gefolgt. Anstatt eines vom Schicksal ordentlich gebeutelten Jungen, rückt Andi Rogenhagen in seiner Produktion eine junge Frau in den Fokus, die wenigstens familiären Rückhalt erfährt. Die von Jasna Fritzi Bauer überzeugend verkörperte Eva verfällt dabei an keiner Stelle in Apathie, sondern kämpft tapfer gegen ihre Krankheit an in dem Versuch, ein halbwegs "normales" Leben führen zu können. Selbst herbe Rückschläge vermögen ihren starken Willen nicht zu brechen und Evas Voice-over-Schilderungen geben einen meist amüsanten Einblick in ihre Seele.

 

Handwerklich sieht man "Ein Tick anders" das bescheidene Budget an, was aber nicht zum Schaden des Filmes gerät. Ganz im Gegenteil: Durch die Fokussierung auf das gediegene Großstadtleben und den Verzicht auf Schauspielstars wirkt die Produktion weitaus glaubwürdiger und eindringlicher, als ein überladenes Großaufgebot an den üblichen Nasen wie Veronica Ferres oder Till Schweiger. Gar ein bisschen zu viel Sparsamkeit wurde beim Soundtrack an den Tag gelegt: Das seichte Gitarrengeplätschere hätte ruhig etwas mehr Mut vertragen. Mut, den der Film mit dem vor einer fiktiven Casting-Jury vorgetragenen Stück "Arschlicht" beweist.

 

Erwartungsgemäß speist sich der Humor oft aus Evas Unflätigkeiten, wobei sowohl die junge Frau selbst, als auch ihre Familie über die bisweilen wahnwitzigen Obszönitäten lachen können. Der zeitgeistige Seitenhieb auf die Casting-Manie verschenkt zwar sein gesamtes Protenzial, dafür wissen unaufgeregte Parodien auf Shoppingsender zu gefallen. An den schauspielerischen Leistungen gibt es ohnehin nichts zu bemängeln: Hauptdarstellerin Jasna Fritzi Bauer spielt ihre Rolle mit sichtlicher Begeisterung, ohne ins Alberne abzurutschen, Waldemar Kobus als viel zu gutmütiges Familienoberhaupt und die durchgeknallte Großmutter (Renate Delfs) wissen ebenso zu überzeugen, wie der eiskalte Bankmanager Kühne (Falk Rockstroh). In einer winzigen Nebenrolle ist übrigens Nora Tschirner mit wenigen, aber sehr witzigen Dialogzeilen zu bewundern.

Woran Andi Rogenhagens "Ein Tick anders" krankt, sind zum einen die Klischees, zum anderen ein unnötiger Fernsehkrimi-Subplot. Während Eva in all ihren Facetten geschildert wird, erweisen sich viele andere Figuren als ärgerlich eindimensional, allen voran der - natürlich! - böse Bankmanager Kühne. Nun würde es sich zumindest heutzutage als kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe erweisen, einen Bankenvertreter nicht als gefühllosen Unmenschen zu karikieren. In diesem Punkt übertreibt Rosenhagen aber; insbesondere, da die unaufgeregte erste Hälfte seines Streifens ungemein sympathisch daherkommt, während der Film plötzlich in unrealistische Krimigefilde abgleitet. Die daraus resultierenden Verwicklungen kommen der sorgsam aufgebauten Atmosphäre aber nicht entgegen, sondern bewirken das Gegenteil und rücken den Streifen in die Nähe beliebiger Fernsehware.

 

Schade, denn hätte Rosenhagen dem lockeren Plauderstil und dem episodenhaften Erzählkonstrukt die gesamte Filmlänge hinweg vertraut, wäre "Ein Tick anders" tatsächlich auf angenehme Weise anders geworden. Eingedenk der nur mäßig gelungenen letzten halben Stunde trübt sich der bis dahin äußerst positive Eindruck und was eine kleine Filmperle aus deutschen Landen hätte werden können, weiß schlussendlich nicht restlos zu überzeugen.

Trotz kleiner Abstriche kann "Ein Tick anders" jedem aufrechten Cineasten empfohlen werden und verdient sich bereits dank der relativ kleinen Bühne, auf der er spielt, Sympathiepunkte.

Originaltitel: Ein Tick anders

Regie: Andi Rogenhagen

Produktionsland und -jahr: Deutschland, 2011

Filmlänge: ca. 87 Minuten

Verleih: Lighthouse Home Entertainment

Deutscher Kinostart: 4.7.2011

FSK: Freigegeben ab 6 Jahren

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