Unterm Riesenrad

Um sich in Kopenhagen zu amüsieren, geht man in den Tivoli. Wer in Paris eine elegante Promenade sucht, schlendert über die Champs-Élysées. Die Münchner spazieren durch den Englischen Garten, um am Chinesischen Turm ein Bier zu trinken. Die Londoner machen am Sonntag einen Ausflug zum Pferderennen nach Ascot und die New Yorker joggen durch den Central Park. Den Wienern imponieren diese berühmten Stätten der Freizeitgestaltung wenig, denn "ihr" Prater bietet das alles seit mehr als 250 Jahren – und noch viel mehr!

1766 wurde das ehemals kaiserliche Jagdgebiet jenseits des ersten Bezirks für jedermann geöffnet. Eine Ankündigung, die von der Stadtbevölkerung mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Seither wohnen und leben die Wiener mit und in "ihrem" Prater, so wie sie auch mit und in "ihrem" Kaffehaus leben und wohnen. Denn das Gebiet zwischen Riesenrad und Lusthaus, zwischen Jesuitenwiese, Trabrennbahn und Donauauen war und ist ein Freizeitparadies vom Feinsten – besser, schöner und vor allem vielseitiger als jedes moderne Disneyland.

Hier gab (und gibt) es das ganze Jahr über unendlich viel zu sehen und zu erleben: Lärmende Gasthäuser und stille Kaffehausterrassen, Zirkus und Feuerwerk, Blumenkorso und Marathon, Riesenrad und Lilliputbahn, Volkssänger und Wanderkomödianten, Sterngucker und Wahrsagerinnen, Herrenreiter und Prater-Dirnen, Hutschenschleuderer und Glücksritter, kurz: Beschaulichkeit und Sensation, Sport, Vergnügen und Laster. Wie in einem Brennspiegel kommt die ganze Vielfalt der Donaumetropole zusammen – und nicht nur die Wiener lieben das Ergebnis, sondern auch alle auswärtigen Besucher. Selbst Napoleon, der Wien 1805 besetzte, konnte sich dem Reiz des Praters nicht entziehen und ließ seine Generäle wissen, dass er "die Tuilerien dafür geben würde, könnte ich den Parisern diesen Wald mitbringen".

Der Prater feiert und tanzt

Was den Prater so unvergleichlich macht, hat schon so mancher Schriftsteller zu beschreiben versucht. Kaum einer hat allerdings so viele alte "Gschichteln" und Augenzeugen-Berichte, amüsante Anekdoten und historische Dokumente zusammengetragen wie Bartel F. Sinhuber in seinem Prater-Buch "Unterm Riesenrad". Er nimmt den Leser mit zurück bis zum ersten grossen Praterfest im Lusthaus, mit dem 1814 der tanzende Wiener Kongreß eröffnet wurde und das dem Prater zu seiner weltweiten Berühmtheit verhalf. Er berichtet von populären Attraktionen und verschwiegenen Aktionen, von bekannten Praterunternehmern wie Calafatti und von den geheimgehaltenen Pannen beim Bau der Rotunde. Und er läßt den Leser an den Pferderennen in der Freudenau und den Fiakerrennen in der Krieau teilnehmen, zeigt ihm auf der Terrasse der Meierei die sonntäglichen Flaneure und erzählt ihm dabei, was unterm Riesenrad verschwunden, was geblieben und was in den letzten Jahren wiederbelebt wurde.

Denn der Prater ändert sich, ohne dabei jemals sein typisches Flair zu verlieren. Bestes Beispiel dafür sind die Gasthäuser und Kaffees in und rund um den Wurstelprater. "Wer sehen will, wie gerne die Wiener essen und trinken, der gehe hierher und er wird staunen", schrieb ein Praterbesucher des ausgehenden 18. Jahrhunderts in sein Reisetagebuch: "Man speisset hier von 10 Creutzern an bis zu 3 und 4 Gulden und an schönen warmen Sonntagen sind die Gasthäuser bis auf den letzten Platz besetzt." Daran hat sich (von den Preisen einmal abgesehen) bis heute nichts geändert, auch wenn es Traditionslokale wie den "Glückshafen", den "Eisvogel" oder das "Weiße Rössl" schon lange nicht mehr gibt. Dafür hat der "Englische Reiter" ebenso überlebt wie das "Schweizerhaus", in dem seit ewigen Zeiten die besten Stelzen serviert und das süffigste Pilsner ausgeschenkt werden.

Ringelspiel & Hochschaubahn

Überlebt haben auch viele der alten Praterattraktionen – vom Riesenrad bis zum Ringelspiel. Ersteres wurde 1897 vom englischen Ingenieur Walter Basset aufgestellt und war ursprünglich mit 30 Waggons ausgestattet. Letzteres hat seinen Namen, weil die Fahrgäste, die auf kunstvoll gestalteten Hutschpferden in luftige Höhen geschwungen wurden, während ihres "Rittes" mit langen Stangen in Ringe stechen konnten.

Mit der Entwicklung der Technik und der Elektrizität wurde das Unterhaltungsangebot im Prater immer vielfältiger. Im aufkommenden Eisenbahnzeitalter gründete der in Triest geborene Basilio Calafati im Jahre 1844 das erste Eisenbahnkarussell. In dieser Hütte wurde kurz darauf die Figur des "großen Chinesers" als Mast aufgestellt. Als die "lebenden Bilder", die Kinomatographie, entstand, gab es prompt das erste Prater-Kino. Und kaum war Strom verfügbar, drehte auch schon eine elektrisch betriebene Grottenbahn ihre Runden, gefolgt von einem "Autodrom" und der ersten echten "Geisterbahn". 1928 wurden dann die Schienen für eine verkleinerte Form der großen Dampflokomotiven, die "Liliputbahn", gelegt, die heute noch Groß und Klein durch die Praterwälder fährt.

Verschwunden sind dagegen die von den Wienern heißgeliebten Abnormitätenshows, bei denen Liliputaner, Haarmenschen, siamesische Zwillinge und andere "Freaks" gegen wenig Geld zur allgemeinen Belustigung freigegeben wurden. Die dicke Prater-Mitzi oder der aus Russland stammende Rumpfmensch Kobelkoff, aber auch das gespenstische "Zaubertheather" von Kratky Baschik bereicherten die Morphologie der bizarren Praterlandschaft.

Von der Geschichte gänzlich verschluckt wurde auch das prachtvolle "Venedig in Wien". Auf dem Gelände der heutigen Kaiserwiese befand sich um die Jahrhundertwende eine künstlich nachgebaute Lagunenstadt mit venezianischen Palazzi und Gondelfahrten, in der sich nicht nur die High-Society, sondern auch die böhmischen Dienstmägde und die Soldaten des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates amüsierten. Berühmt-berüchtigt waren die exotischen Veranstaltungen, mit denen immer neue Besucher angelockt wurden: Stierkämpfe und Damenboxen, Raubtierdressur und japanische Ringkämpfe, Rollschuhshows und Gauklerbühnen.

The Wiener Riesenrad (Bild: 6833983)

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