Erik H. Eriksons Identitäts-Entwicklungsmodell

Jeder kennt die zwei Hauptkrisen im menschlichen Leben: Die Pubertät und die Midlife-Crisis. Was dem krisengeplagten Erwachsenen der Gegenwart relativ unbekannt ist:

Die Entwicklungspsychologie kennt noch einige andere ganz normale "Entwicklungskrisen".

 

Es bleibt alles anders

Man kann das Erwachsenenleben durchaus als fortlaufenden Entwicklungsprozess mit radikalen Einschnitten und Veränderungen ansehen, ohne diese Veränderungen zu problematisieren. Wie formulierte es ein gewisser Herbert Grönemeyer so treffend vor einigen Jahren? "Es bleibt alles anders." So ist es. Akzeptieren wir das doch einfach.

Erik H. Erikson (1902-1954), ein sogenannter Neufreudianer, hat der Welt schon vor einiger Zeit ein Stufenmodell beschert, dass uns speziell das Erwachsenenleben mit ganz anderen Augen ansehen lässt. Schaubild hier auf S.8. Leider ist dies meist nur Psychologen und Pädagogen bekannt. Geht man gemeinhin davon aus, man wäre mit 25 Jahren erwachsen und die Persönlichkeit gefälligst ausgereift und gefestigt, gibt es in Eriksons "Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung" bis ins hohe Lebensalter viel Raum für Entwicklung, Veränderung und vor allem: Für Identitätskrisen. Diese werden als völlig normale unausweichliche, ja notwendige Entwicklungs-Bausteine auf dem Weg zur optimalen Persönlichkeitsreifung angesehen.

An solchen Theorien wird natürlich in der jeweiligen Wissenschaft immer viel herumkritisiert. Alles wird zerpflückt und neu aufgelegt, der Gesellschafts- und Zeitkontext hinzugenommen, alles komplett verworfen und am Ende die fragwürdige Theorie doch als Basis für weitere Forschungen akzeptiert. Deswegen beschränkt sich dieser Artikel auch auf das Originalmodell und vernachlässigt all das, was danach folgte und seine kritische Hinterfragung. – Eriksons Stufenmodell ist so wie sie da steht, für den ganz normalen Menschen einfach zu hilfreich und nützlich!

 

Acht Stufen musst du durchlaufen, Mensch!

Es gibt nach Erikson acht Phasen/Stufen der Identität. Das bedeutet natürlich nicht, dass man als alter Mensch sein Ziel erreicht hat und am Gipfel seiner Entwicklungsmöglichkeiten angelangt ist. Keineswegs. Es kann ja auch vieles schiefgehen. Das Modell stellt eher das Ideal einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung dar. Es dient als Groborientierung im Dschungel unserer individuellen Lebensläufe, die von Schicksalsschlägen, Hindernissen, Herkunftsverhältnissen und anderen äußeren Faktoren genauso geprägt werden wie von uns selbst.

Besonders interessant sind natürlich die Identitätskrisen im Erwachsenenalter. Dass Kindheit und Jugend und junges Erwachsenenalter einen einzigen Entwicklungsprozess darstellen mit dem Ziel, ein einigermaßen angepasster integrer Erwachsener zu werden, ist wohl jedem klar. Gerne wird einfach ausgeblendet: Reifung und Entwicklung gehen noch weiter, während der Körper aufhört, sich zu verändern und zu wachsen. Man steht eben lieber als ‚fertige', in sich ruhende Persönlichkeit vor den anderen da und nicht mehr wie als Kind und Jugendlicher ständig in Frage gestellt und kritisiert.

Doch dies ist eigentlich nur ein frommer Wunsch oder eine Verweigerungshaltung. Die Sicherheit hört spätestens in der sogenannten Midlife-Crisis auf. Grundproblem in dieser Phase ist die aufkommende Frage: Wie? Und das soll alles gewesen sein?

Das selbe Problem haben aber nicht nur Menschen im mittleren Lebensalter, sondern ebenso sehr junge Mütter, denen eine ungewollte Schwangerschaft eine standardisierte Lebensplanung durcheinander wirft und sie zwingt eine Entwicklungsstufe voraus zu springen, obwohl sie noch gar nicht so weit sind.

 

Crisis? What Crisis?

Eriksons Modell kann uns helfen ein lockeres distanziertes Verhältnis zu neuen Lebensphasen zu entwickeln. Begreifen wir Leben als ungeordnete Abfolge von Identitätskrisen, können wir die Krisen locker, entspannt und sogar mit Humor durchlaufen. Nach Erikson verläuft das gesamte Leben in bestimmten Phasen, was an sich kein Problem darstellt. Doch: Das Ende der einen Phase und der Übergang zu einer neuen beinhaltet ganz automatisch eine Krise. Warum? Weil die eine Identität nicht mehr gilt und die neue noch nicht. Wir befinden uns also in einem Vakuum. Kein Wunder, dass wir uns schlecht, unsicher und überhaupt nicht stark, integer und selbstbewusst fühlen. Wir wissen ja auch gar nicht mehr, wer wir eigentlich sind! Am einleuchtendsten zeigt das die Phase der Pubertät, in der die Rolle des Kindes nicht mehr funktioniert, aber die des Erwachsenen eben auch noch nicht. Solche Phasen durchlaufen wir im späteren Leben auch wieder, nur im Zeitraffer.

Wichtig: Hat man eine Phase hinter sich und ist gut in die nächste hinübergekommen, warten dort (nach Erikson) einige Belohnungen auf uns (siehe Schaubild). Zusätzlich sind wir nach einer überwundenen Krise auch immer stärker und sicherer als jemals zuvor. Die reale Gefahr besteht nun aber darin, dass wir einzelne Krisen nicht überwinden. Besonders in der Kindheit, in der wir abhängig davon sind, psychisch gesunde und vernünftige Eltern zu haben, können die Grundlagen für spätere Identitätsprobleme geschaffen werden. Eltern, die ihre Kinder früh in eine Erwachsenenidentität drängen (Wunderkinder in Sport und Musik) sind hier nur ein harmloses Beispiel ebenso wie solche, die ihren Kindern alle Frustrationen abnehmen und eine gesunde Auseinandersetzung mit negativen Erfahrungen unwissentlich verhindern.

 

Beispiele für Identitätskrisen:

- Wir werden 25 Jahre alt – die Jugend ist vorbei. Was kommt jetzt? Wir kennen ja nichts anderes als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener zu sein. Was sollen wir ab jetzt sein? Manche entscheiden sich übrigens in dieser Phase vorschnell für ein gefestigtes Familien- und Berufsleben, das sie einige Jahre später wieder auflösen müssen.

- Junge Paare sind plötzlich (durchaus gewollt) zu dritt und müssen neue Identitäten annehmen. Vater- und Mutterrolle bedeuten auch einen Abschied von der eigenen Jugendidentität. Problem in dieser Phase: Es bleibt kaum Zeit, sich mit der eigenen neuen Identität auseinanderzusetzen, da das Kind versorgt werden will.

- Älterwerden an sich.

- Die eigenen Kinder kommen in die Pubertät und brauchen einen nicht nur immer weniger, sondern sie stoßen einen auch noch ab!

- Die erwachsenen Kinder verlassen das Elternhaus. Die Vater- und Mutterrolle ist nicht mehr jeden Tag gefragt.

 - Pensionierung: Die Identifikation mit dem Beruf fällt plötzlich weg.

- Großelternwerden: Die eigenen Kinder sind nun selber Erziehende.

- Auch kinderlose Erwachsene durchlaufen mehr oder weniger gravierende Identitätskrisen. Hier spielen natürlich auch berufliche Wege und altersbedingte Einschränkungen eine Rolle.

 

Fazit zu Eriksons Stufenmodell:

Begreift man sein Leben frei nach Eriksons Stufenmodell als Ablauf von Identitätskrisen, läuft man gar nicht mehr so sehr Gefahr, sich mit seiner aktuellen Phase all zu sehr zu identifizieren und unfähig zu bleiben, in die nächste hinüber zu gehen.

P.S.: Rüber Springen nützt auch nichts!

 

Weiterführende Links:

http://de.wikipedia.org/wiki/Stufenmodell_der_psychosozialen_Entwicklung http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/EntwicklungErikson.shtml http://de.wikibooks.org/wiki/Soziologische_Klassiker/_Erikson,_Erik_H.

Literatur:

- Erikson, E.H. (1966): Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main, 1. Auflage 1973.

Autor seit 13 Jahren
41 Seiten
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