Zur Situation von Nichtsesshaften in Deutschland

Wer in großen deutschen Städten durch die Fußgängerzonen geht oder mit offenen Augen Bahnhöfe betritt, der wird sie immer wieder sehen: Obdachlose. Dabei ist das Phänomen der Obdachlosigkeit nicht neu. Durch die Jahrhunderte hindurch bekamen sie die unterschiedlichsten Bezeichnungen. Sie hießen Kammesierer, Hippenbuben, Vaganten oder Korrigenden. In der Zeit des Nationalsozialismus betitelte man sie als "arbeitsscheue Nichtsesshafte". Leider ist es bis heute nicht gelungen, das soziale Netz des Staates so eng zu knüpfen, dass niemand durch seine Maschen fällt. In einigen Großstädten Deutschlands leben tausende Menschen ohne festen Wohnsitz auf der Straße. Allein in Berlin wird ihre Zahl auf 10.000 geschätzt, in Hamburg sollen es immerhin circa 1.300 sein, allerdings stammt diese Zahl aus dem Jahre 2002. Würde man heute zählen, wären es sicherlich deutlich mehr.

Gründe für Obdachlosigkeit

Einer der wichtigsten Faktoren für das Abrutschen in die Nichtsesshaftigkeit ist die Tatsache, dass in Deutschland immer mehr Menschen von Armut bedroht sind. Wer einmal in diese Armut geraten ist, tut sich oft schwer, wieder auf die Füße zu kommen. Zu den schlimmsten Auswirkungen der Armut zählt der Verlust der eigenen Wohnung. Meist ist es ein wahrer Teufelskreis, in den man gerät. Zuerst verliert man vielleicht "nur" den Arbeitsplatz, daran zerbricht die Partnerschaft, Zahlungen können nicht mehr geleistet werden, die Probleme werden im Alkohol ertränkt und die Wohnung wird irgendwann vom Vermieter gekündigt. Die Endstation heißt Straße. Wer heute als Obdachloser leben muss, der ist ohne Schutz, meist ohne Freunde und hat jedes Selbstbewusstsein verloren. Fragt man Betroffene nach ihren Perspektiven, ist die Antwort meist ein resigniertes Schulterzucken. Viele finden sich schnell damit ab, unter Brücken, in Hauseingängen, Abbruchhäusern, Autowracks oder in Zelten leben zu müssen.

Sich verbindende Faktoren führen häufig zu Obdachlosigkeit

Aber die Ursachen für Obdachlosigkeit beruhen nicht auf einzelnen Ereignissen im Leben, sondern sind vielfältig. In der Regel ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren. So ist es meist ein ganzes Konglomerat aus Arbeitslosigkeit, Verschuldung und zu teurer Wohnraum, Kindheitstraumata, Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch, Partnerschaftskrisen, extremer Einsamkeit und fehlender sozialer Unterstützung durch Freunde oder Familie. Diese ohnehin schon schwierigen Probleme werden meist noch potenziert durch juristische und/oder polizeiliche Komplikationen. In dieser Situation ist der Schritt auf die Straße nicht mehr weit entfernt.

Obdachlosigkeit kann jeden treffen

Auch wenn ein großer Teil der Betroffenen aus dem Umfeld sozial schwacher Familien stammt, so zeigt sich doch, dass Obdachlosigkeit jeden treffen kann. Schaut man sich in Suppenküchen oder Obdachlosenunterkünften um und sucht das Gespräch mit Betroffenen, so stellt sich schnell heraus, dass Personen aus jeder Gesellschaftsschicht in diese Situation geraten können. So trifft man ehemalige Ärzte ebenso, wie Arbeiter, ehemals erfolgreiche Professoren oder sogar Banker. Hört man genau hin, erfährt man, dass der Einstieg in den Abstieg sehr oft berufliche Überforderung war, die zu Alkohol- oder Drogenproblemen führte, an die sich dann fast zwangsläufig die "klassischen" Folgeerscheinungen mit der Endstation Straße anschlossen.

Viele Hilfsangebote helfen nur punktuell

Natürlich versuchen die politisch Verantwortlichen, Obdachlosen zu helfen. Es gibt in allen großen deutschen Städten inzwischen Notunterkünfte, Übergangsheime, Suppenküchen, die weithin bekannten Lebensmittel-Tafeln und andere Anlaufstellen. Aber viele der Obdachlosen scheuen sich vor dem Gang in solche Einrichtungen, nicht nur aus Angst vor dem Diebstahl dessen, was sie noch besitzen. Die schlechten Bedingungen in Obdachlosenheimen oder Notunterkünften sind hinlänglich bekannt. Eine große Rolle bei der Ablehnung von Hilfe spielt allerdings auch die tiefsitzende Resignation sowie die Hilflosigkeit und Perspektivlosigkeit bei vielen Betroffenen. Sie haben sich nach einem meist viele Jahre andauernden Leben auf der Straße mit ihrer Rolle am Rande der Gesellschaft abgefunden und verfügen oft nicht mehr über die notwendige Kraft, um in ein normales Leben zurückzukehren.

Beim Anblick von Obdachlosen darf niemand wegschauen

Der "Normalbürger" neigt dazu, einfach wegzusehen und schnell weiterzugehen, wenn ihm auf der Straße Obdachlose begegnen. In dem Bewusstsein, dass ein solches Schicksal jeden treffen kann, ist jeder aufgerufen, die Situation obdachloser Menschen zu verbessern und sei es nur durch ein hoffnungsvolles Wort oder einen verständnisvollen Blick. Die Bürger und vor allem die Politik sind aufgerufen, selbst aktiv zu werden. Denn aufgrund ihrer Situation darf man nicht erwarten, dass die Betroffenen von selbst den ersten Schritt machen, dazu sind sie im Normalfall nicht bzw. nicht mehr in der Lage. Die Initiative kann nur von denen ausgehen, die das soziale Netz in Deutschland geknüpft haben. Sie müssen noch viel stärker nach Löchern in diesem Netz Ausschau halten und sie schließen, denn niemand sollte in einem Sozialstaat auf der Straße leben müssen.

Autor seit 12 Jahren
212 Seiten
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