Liebe geht durchs Handy

Japan assoziiert man hierzulande größtenteils mit Unterhaltungselektronik, abstrusen Gameshows und seltsamen Trends, die im Gegensatz zu jenen aus den USA selten das Abendland erreichen. Beispielsweise infizierten sich Europäer in den 1990er Jahren nicht mit dem Tamagotchi-Fieber, das Japan gepackt hatte und jahrelang beschäftigen sollte.

Wer sich dank der Gnade der späten Geburt nicht mehr an besagtes Elektronikspielzeug erinnern kann: Das Tamagotchi war ein virtuelles Tier, das vom Besitzer auf dem winzigen Display umhegt werden musste, um nicht vorzeitig abzuleben.

Ebenso virtuell wird bei den populären japanischen Liebessimulationen geflirtet und geliebt. Moderne Unterhaltungselektronik macht die Fernbeziehung mit einem unerreichbaren, weil rein fiktiven Traumpartner möglich und erobert die japanischen Smartphones insbesondere der jüngeren Generationen. Neu ist freilich nur das Medium, nicht das Spiel mit der Liebe selbst.

Die Computerfigur-Braut

Bereits in den 1990er Jahren hatten findige Softwareentwickler die Sehnsucht nach der unkomplizierten, perfekten Liebe entdeckt, die so genannten Ren'ai-Simulationen. Zweck und Ziel dieser Simulationen ist das Anbändeln, später eine romantische Beziehung zu einer Computerspielfigur.

Dass dabei die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen können, scheint ein nur unter seinem Usernamen SAL9000 bekannter Japaner zu belegen, der 2010 mit der Computerspielfigur Nene Anegasaki seine Traumfrau heiratete. Ob es ihm ernst war oder es sich um eine clever eingefädelte Kunstaktion handelt, ist nicht restlos geklärt. Ob ihm somit die virtuelle Braut aus der Liebessimulation "Love Plus" lieb war, bleibt unklar. Ziemlich teuer für einen Scherz dürfte dem anonym bleibenden Japaner die auf der US-Insel Guam abgehaltene Zeremonie jedenfalls zu stehen gekommen sein. Anstatt eines Hochzeitsvideos kann er die herzergreifende Feier seinen vermutlich ebenso virtuellen Enkeln später einmal auf Youtube präsentieren.

Darüber lässt sich natürlich ebenso schmunzeln, wie über jene Amerikanerin, die den Eiffelturm heiratete. Doch hinter dem Phänomen der Liebessimulationen verbirgt sich ein gesellschaftlicher Wandel, der auch vor den westlichen Industriestaaten nicht Halt macht.

Wir verlernen Kommunikation

Raffinierter und ausgeklügelter werdende Technologien verbinden einerseits zwar die Menschen und ermöglichen augenblickliche Kommunikation bis in die entlegensten Winkel der Erde. Andererseits wird der einst fast unumgängliche persönliche Kontakt aufgehoben und durch eine virtuelle Scheinwirklichkeit ersetzt. Ob stundenlange Chats mit Menschen, die tausende Kilometer entfernt wohnen, Geschäftsmeetings zwischen Partnern, welche sich in völlig unterschiedlichen Städten aufhalten, oder Soziale Netzwerke wie "Facebook": Längst muss man die Couch nicht mehr verlassen, um mit anderen Menschen zu flirten, geschäftliche Details zu besprechen oder Urlaubsfotos auszutauschen. Der Preis dieser Entwicklung: Das Virtuelle wird immer realer, das Reale immer fremdartiger.

Ohne Liebessimulationen am Smartphone, Skype oder Facebook aufgewachsene Generationen hatten bei der Partnerwahl keine andere Möglichkeit, als beim Ausgehen, auf einer Party oder am Arbeitsplatz einen potenziellen Partner kennenzulernen. Über Erfolg oder Misserfolg entschieden neben dem Äußeren soziale Fähigkeiten: War man mutig genug, die hübsche Verkäuferin anzusprechen? Wusste man mit einem Korb umzugehen? Konnte man ein Gespräch in Gang bringen und nicht nur wie ein Wasserfall von sich selbst erzählen, sondern auch zuhören?

Was einst ganz normaler Alltag war, verlagert sich zusehends auf eine virtuelle Ebene mit eigenen Spielregeln. "Freunde" werden per Mausklick zum eigenen Profil hinzugefügt, Kommunikation findet in eMails oder SMS statt, und in Singlebörsen wird eine eventuell perfekt passende Partnerin auf Grund eines unvorteilhaften Schnappschusses als zu leicht befunden und ignoriert. Paradoxerweise verlernen trotz der gestiegenen Kommunikationsmöglichkeiten viele Menschen das Handwerk des Flirtens, wissen Körpersprache nicht zu deuten und sind feinen Nuancen gegenüber dem gesprochenen Wort taub. Folglich kann es nicht überraschen, dass Liebessimulationen auf Handys gerade in Japan boomen.

Auf altmodische Weise romantisch

Auf altmodische Weise romantisch (Bild: http://pixabay.com)

Nur wenige Länder weisen eine ähnlich niedrige Fertilitätsrate wie Japan auf, wo 2013 Frauen im gebärfähigen Alter 1,39 Kinder zur Welt brachten. Um eine von Migrationsströmen weitgehend abgeschottete Gesellschaft auf einem konstanten Bevölkerungsniveau zu halten, wären mehr als 2 Kinder pro Frau nötig. Die unausweichlichen Folgen ähneln jener Chinas: Japans Gesellschaft "vergreist". Bereits in wenigen Jahren könnte auf einen werktätigen Japaner ein Rentner kommen. Während in China jedoch vorsichtig über die Abschaffung der restriktiven Ein-Kind-Politik nachgedacht wird, änderten in Japan selbst finanzielle staatliche Anreize nichts an der Misere.

No risk, but fun: Liebessimulationen

Laut einer 2011 durchgeführten Umfrage des japanischen Gesundheitsministeriums, weist Japan eine ungewöhnliche hohe Anzahl an Singles auf. Hierfür gibt es natürlich eine ganze Reihe an Gründen. Etwa die Abkehr von der Tradition des alleinverdienenden Mannes, was zu weitaus mehr berufstätigen Frauen führte, die kaum noch Zeit für die Partnersuche, geschweige denn für das Aufziehen von Kindern finden. Denn: Die in Westeuropa vom Staat zur Verfügung gestellte Rundum-Versorgung von Müttern ist in Japan nicht im selben Umfang gegeben. Zudem stiegen die Ansprüche an potenzielle Partner, die kaum noch erfüllbar scheinen.

Der Ausweg: Eine virtuelle Partnerschaft in Form der Liebessimulation auf dem Handy! Die Gefahr eines harschen Korbs besteht ebenso wenig, wie unweigerliche Beziehungsprobleme oder der Schmerz der Enttäuschung. Der Traummann – Ren'ai-Simulationen werden überwiegend von Mädchen und jungen Frauen gezockt – wird einfach per Touchscreen erobert, wobei clevere Spieleproduzenten von Liebessimulationen zusätzliche Einnahmen herausschlagen, indem sie sich beispielsweise das passende Outfit fürs erste virtuelle Date bezahlen lassen. Natürlich mit echtem Geld. Die Aufregungen des Flirtens und Eroberns können ganz bequem unterwegs oder im Bett vor dem Schlafengehen in beliebigen Dosen genossen werden. Der Traummann bleibt zwar ein Traum, aber er nervt nicht mit ständigen Anrufen, fordert nichts ein und gibt keine Widerworte - eine weitere verblüffende Parallele zum Tamagotchi!

Auch die Liebe ist ein seltsames Spiel!

Kann man diesen meist jungen Menschen einen Vorwurf machen, die gefahrlose Liebessimulation am Handy der realen, mühsamen und zeitintensiven Partnersuche vorzuziehen? Die Ansprüche an Beziehungen sind enorm gestiegen, seit die klassische Rollenverteilung auch in Japan weitgehend gefallen ist. So positiv wir diese Entwicklung auch sehen mögen: Für beide Geschlechter bedeutete sie eine teils enorme Verkomplizierung. Was in der Elterngeneration noch als traditionelle Gepflogenheit gegolten haben mag, kann heutzutage als überholt und altmodisch gelten.

So paradox es auch klingt: Weniger Regeln und Konventionen bedingen weitaus mehr persönlichen Einsatz und Mut, was viele Menschen schlichtweg überfordert. Der früher übliche Weg des Kennenlernens – der Mann hat den ersten Schritt zu machen, Einladung zum Tanzabend oder ins Kino, passive Rolle der Frau – wurde in den Industriestaaten im Zuge der Emanzipation und digitalen Revolution obsolet.

Oder um es auf den Punkt zu bringen: Ein junger Mensch möchte einen Partner kennenlernen, weiß aber nicht wie. Dereinst mag so mancher schüchterner, unsicherer Zeitgenosse einfach als Eigenbrötler oder alte Jungfer abgestempelt worden sein. Heute bietet das Handy mittels Liebessimulationsspielen die Möglichkeit, wenigstens auf virtuelle Weise zu flirten und zu erobern. In die Praxis lassen sich die vorgegebenen Sprüche und gescripteten Szenen freilich nicht übertragen.

Da alles seinen Preis hat, ist die westliche Entwicklung der freien Partnerwahl unter anderem mit sinkenden Geburtenraten verbunden, und Japan bildet keine Ausnahme davon.

Auch wenn die Gesellschaft entgegen vieler Unkenrufe nicht in Auflösung begriffen ist, so hat sie zahlreiche neue Herausforderungen zu bewältigen. Eine davon wird darin bestehen, die Brücke zwischen den Verlockungen der Virtualität und der meist eher schnöden Realität zu schlagen. Denn so märchenhaft simpel und schön eine Liebessimulation am Handy scheinen mag: Sie ersetzt natürlich keine richtige Partnerschaft, wobei auch diese letztendlich nur ein seltsames Spiel ist.

Liebessimulationen am Handy: Wagen Sie das Spiel?
Autor seit 13 Jahren
815 Seiten
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