Serienmörder und ihre Suche

"Ich legte Wert darauf, dass jeder morgens ein vollständiges warmes englisches Frühstück bekam. Nichts hebt die Moral der Truppe an einem eiskalten, unfreundlichen Morgen mehr als die Spiegeleier auf geröstetem Brot mit Speck, Würstchen, Baked Beans und Tomaten, dazu Buttertoast und ein dampfender Pott Tee oder Kaffee. Durch meinen Eifer als Koch (und durch meine Trinkfestigkeit) war ich für alle Dienstgrade in der Skischule der beste Freund." 

Die Mörder sind unter uns, und wenn sie es "nur" im Kino sind, wie zum Beispiel Hannibal Lecter im gleichnamigen Film. Hannibals exzentrisches Leben zeigt einen Schönheitsfehler: Er, der bewunderungswürdig gebildete Kunstprofessor, der mit sensiblen Gaben ausgestattete Psychiater, Hobbykoch, Gourmet und Liebhaber der Werke Bachs, summa: der diabolisch Gute, er mordet für sein Leben gern. Unter anderem, weil er seine Opfer verspeisen möchte: Hannibal the canibal, so heißt er bereits im ersten Teil, dem "Schweigen der Lämmer", jenem Film der 1991 die Welt schockierte und dafür fünf Oscars erhielt.

Hannibal Lecter aus dem "Schweigen der Lämmer" – Kunstfigur mit realem Vorbild

Hannibal ist die wohl ambivalenteste Filmfigur der letzten Jahrzehnte; mit seinem Auftritt im dritten Teil der Saga (er trägt den lapidaren Titel "Hannibal") ist er uns erneut ein Stückchen nähergerückt, geografisch (der Film spielt in weiten Teilen in Florenz) wie auch innerlich. Denn so seltsam es klingen mag: Wir verzeihen ihm seinen, sagen wir mal – Defekt.

Obschon scheußlich ist, was er tut, so sind doch wirklich böse nur die Buben, von denen er die Welt befreit: Dr. Frederic Chilton, Kommissar Rinaldo Pazzi, Paul Krendler vom FBI und schließlich Mason Verger, sein verstümmeltes, nach Rache dürstendes Opfer.

Das biblische Motto: Auge um Auge – Zahn um Zahn

Hannibal befriedigt unseren Wunsch nach Rache, die wir als Gerechtigkeit empfinden. Unnachahmlich macht er das und zur Nachahmung nicht empfohlen; mit Stil und mit einer jede Grenze überschreitenden Rigorosität; mit Höflichkeit, ja Respekt, doch mit jeglichem Verlust an Gültigkeit, an Güte. Egoismus pur in Moral und Ethik, die Form regiert das Tun, echt geil eben, ein Arschloch zu sein, darin ist Hannibal uns nahe – das Grauen rückt näher.

"Berlin hatte damals längst seinen Vorkriegsruf als sündiges Pflaster wiedererlangt, und beim Aufwachen fand Nilsen oft wildfremde Deutsche neben sich im Bett … Also fuhren Nilsen und seine Kameraden auf der Transitstrecke durch Ostdeutschland nach Bayern."

Das potentiell Böse in unmittelbarer Umgebung

Das Dilemma, es wird deutlicher: Wir wollen uns an den Hannibals ergötzen, gleichzeitig sollen, ja müssen sie uns natürlich in Ruhe lassen. Und ich erinnere mich an die Mahnungen meiner Eltern in den siebziger Jahren, vorsichtig zu sein, weil Ulrike Meinhof an die Tür klopfen könne. Was nicht ganz abwegig war. Mein Vater beschrieb Ulrike als ein hochkluges, freundliches Mädchen, sozialkritisch, engagiert, aber nicht extrem oder radikal, mit dem er im Weilburger Schulchor sang und das er bei ihrer Tante traf, Renate Riembeck, die Frau, die Ulrike aufzog und die später auch seine Professorin werden sollte. Erinnerungen genug, die auch der untergetauchten Terroristin kommen konnten. Erinnerungen, die ihr, aus meines Vaters damaliger Sicht, Hoffnung auf Unterschlupf bei uns hätte machen können. Wie also sich vor ihnen schützen?

Ein Tanzpalast in Kurort Bodenmais und der Schock nach 30 Jahren

"Anfang 1970 wurde er für die Versorgung der Teilnehmer an den Skihängen im bayerischen Bodenmais abgestellt … Während der zwei fröhlichen Monate wohnten sie in einem alten Bauernhaus auf der Alp, das zum Skihof Kottinghammer umfunktioniert war."

Je normaler die Umgebung, desto irritierender das Grauen, das möglicherweise hätte hereinbrechen können. Der Kottinghammer existiert, bestätigt Katharina H. von der Kurverwaltung Bodenmais. Und sie weiß auch, dass es zu jener Zeit einen Schmied gegeben hat, der allenthalben nur der "wilde Hans" genannt wurde ob seines lauten Auftretens. Er soll heute in Deggendorf leben. 

"Für ein Bierfest mit Tanzvergnügen in Bodenmais borgte sich Corporal Nilsen beim ‚wilden Hans‘ von der Tankstelle Lederhosen."

Das Tanzvergnügen wird wohl im Hotel Bayerischer Hof stattgefunden haben, vermutet H.; dort gab es den einzigen Tanzsaal des Ortes und eine Galerie. Frau H. ist heute siebenundvierzig Jahre alt.

"Nach zu viel Bier und Blasmusik hatte es ihm eine hübsche Achtzehnjährige aus der Gegend angetan. Er tanzte pausenlos mit dem Mädchen, bis er sie irgendwann auf die Veranda mitnahm."

Katharina H. könnte jenes Mädchen gewesen sein.

"Sie küßten sich, doch dann gingen ihre Verwandten dazwischen und zerrten sie weg … Dennis ging wieder in den Tanzsaal."

Frau H. ist nicht dieses Mädchen. Aber selbst durchs Telefon drängt ihre Bestürzung über die dreißig Jahre zurückliegende Begebenheit: Sie hat oft im Bayerischen Hof getanzt – ein Serienmörder ebenfalls. In Bodenmais! Sie kann es nicht glauben, Frau H. will es nicht glauben. Vermag sie es sich vielleicht nicht vorzustellen?

In der Maske der Normalität: ein guter Junge

"Am sichersten wäre es wohl, den Leichnam in kleinen Stücken in der Toilette herunterzuspülen … Als erstes öffnete er die Bauchdecke und nahm sich die Organe vor. Er zerkleinerte sie auf einem Küchenbrett in etwa fünf Zentimeter große Stücke und spülte jeweils etwa ein halbes Pfund davon herunter."

Das offizielle Polizeifoto Dennis Nilsens vom Februar 1983 zeigt einen schlaksigen, hypotonen Brillenträger, dessen Mundwinkel die Rundung der Schulter nachzeichnen. Die vollen Unterlippen spötteln, seine rechte Schulter hängt deutlich tiefer als die linke, die angelegten Arme pressen die Resterinnerung an die Zeit beim Militär heraus. Ein Mensch aus der Nachbarschaft. Vielleicht züchtet er Kakteen, streichelt Hunde und gibt den Kleinen Bonbons.

Um ihn gut aufs Foto zu bannen, hat der Fotograf einen starken Scheinwerfer aufgebaut: frontal und etwas nach links versetzt. So ist auf dem Bild ein Schatten zu sehen, hinter und neben Nilsen, seine Silhouette deckungsgleich nachzeichnend. Zwei Seelen schlagen, ach, in seiner Brust. Und der Betrachter ist versucht, das Böse im Schatten zu finden, nicht im Gesicht davor. Vergeblich. Das Grauen findet sich immer. Und überall. Selbst in Bodenmais, knapp 750 Meter über Normal.

Nachtrag - Anmerkungen zu diesem Text

Dieser Artikel entstand im Jahr 2001 in einer Phase, in der ich mich mit dem Gedanken an einen selbstverfassten Thriller trug. Hannibal hatte es mir »angetan«, und ich las, was ich an Literatur in die Hände bekam zum Thema Serienmörder. Als ich im oben mehrfach zitierten Buch auf die Passage mit Bodenmais stieß, war ich elektrisiert: ein Serienmörder, unerkannt und noch vor seinem »coming out«, in Niederbayern, in meiner Heimat! Da musste ich mehr erfahren.

Gleich das erste Telefonat war ein Treffer: Ob es in Bodenmais wohl Hinweise auf Dennis Nilsen gäbe, wollte ich von Katharina H. wissen, und schilderte ihr die Geschichte – sie war schockiert. Schockiert über das, was ich zu erzählen wusste. Sie war erschrocken, weil sie nicht ausschließen konnte, dass sie sich in den Armen eines Serienmörders zu Musik gewiegt hatte dreißig Jahre zuvor. 

Dass mein Vater Ulrike Meinhof persönlich gekannt hat, dafür verbürge ich mich: Er hat mich in diesem Punkt nicht belogen.

Quelle zum Bild: Anthony Hopkins als Serienmörder Hannibal Lecter – © Phil Bray/MGM Pictures/Universal Pictures/Dino D

Bodenmais im Bayerischen Wald
jofl, am 28.11.2011
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