Klassiker sind eine Reise in die Vergangenheit

Die hier vorgestellten Klassiker wurden in einer Zeit geschrieben, als es noch kein Internet gab, zum Teil noch nicht einmal Fernsehen, Radio oder Telefon. Kommunikation über längere Distanzen fand vor allem schriftlich statt. Die Menschen schrieben (und lasen!) lange Briefe. Wollte man direkten Kontakt, musste man einander besuchen und dafür oft eine längere Reise auf sich nehmen. Alles war langsamer. Ein langer Roman mit vielen interessanten Personen, die in verwickelten Beziehungen zueinander stehen, war hochwillkommen, um Wartezeiten zu überbrücken.

In gewisser Weise ist auch der Winter eine solche Wartezeit. Wir merken es nicht mehr so sehr, weil es rund um die Uhr so viele Unterhaltungs- und Beschäftigungsangebote gibt, dass man schon bewusst zwischendurch abschalten muss, um überhaupt zum Nachdenken zu kommen. Aber wenn wir uns ein wenig von der Großstadt entfernen und die Natur betrachten, wird es deutlich: Vögel und andere Tiere, kahle Bäume, Sträucher und die Erde selbst, alles wartet und hofft auf den Frühling.

Wir haben es gut. Wir können uns in eine warme Ecke zurückziehen, ein dickes Buch aufschlagen und uns in eine andere Welt entführen lassen, ganz ohne Internet und Computer. Und ganz nebenbei tun wir damit noch etwas für unsere Allgemeinbildung und erweitern unseren Horizont.

1. Fjodor M. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow

Dostojewskij hatte ein außerordentliches Faible für Kriminalfälle und spannende Plots. Wie schon in Schuld und Sühne (auch unter dem Titel Verbrechen und Strafe oder Rodion Raskolnikow bekannt) steht auch in den Brüdern Karamasow ein Mord am Anfang. Doch während es in Schuld und Sühne vor allem um die Psychologie des Mörders geht, der von Beginn an bekannt ist, muss der Mord am alten Fjodor Karamasow erst aufgeklärt werden. Verdächtig sind auch seine Söhne, deren unterschiedliche Charaktere wir im Lauf der Geschichte kennenlernen. Wie in allen Romanen Dostojewskijs geht es nicht nur um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern in erster Linie um existentielle Fragen des Menschseins.

2. Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden

Wer eine Zeit lang dem Alltag und der Gegenwart entfliehen möchte, ist bei Tolstoi gut aufgehoben. Die russische Adelsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, die seine Romane dominiert, strahlt einen ganz eigentümlichen Charme aus. Thema ist das Leben schlechthin: von der jungen Natascha, die zwischen drei verschiedenen Liebhabern schwankt, bis zu strategischen Entscheidungen auf dem Schlachtfeld der napoleonischen Kriege und ihren unvermeidlichen Folgen, Vernichtung und Tod.

Krieg und Frieden
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3. Margaret Mitchell: Vom Winde verweht

Um Krieg und gesellschaftliche Umbrüche geht es auch in Vom Winde verweht. Viele werden nur den Film kennen, der durchaus sehenswert, aber naturgemäß oberflächlicher ist als das Buch und vor allem die Liebesgeschichte zwischen Scarlett O'Hara und Rhett Butler in den Mittelpunkt stellt. Der historische Hintergrund, Scarletts Entwicklung vom männermordenden Vamp zur brutalen Geschäftsfrau, das gesellschaftliche Umfeld mit seinem viktorianischen Zwang, Scarletts allmähliche Befreiung daraus und Rhetts Unkonventionalität – all das wird im Roman ausführlicher dargestellt, und dank Margaret Mitchells Erzählkunst so unterhaltsam, dass die mehr als 1000 Seiten keinen Augenblick langweilig werden. Das Buch war nicht umsonst jahrelang ein Bestseller.

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4. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Goethes Wilhelm Meister gilt als erster Bildungsroman der Literaturgeschichte, der ein ganzes Genre begründete. Ein Bildungsroman: Hauptperson darin ist ein junger Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft sucht, verschiedene Wege ausprobiert und dabei auch mal in einer Sackgasse landet. Wilhelm Meister reißt von zu Hause aus und schließt sich einer Theatertruppe an – damals gesellschaftlich höchst anrüchig. Er lernt verschiedene Frauen kennen und lieben, findet Freunde und Lehrer, die im Verborgenen wirken, – und am Ende auch sich selbst.

5. Thomas Mann: Der Zauberberg

Einer der bekanntesten Nachfolger des goetheschen Bildungsromans ist Thomas Manns Zauberberg. Im Vergleich zu Wilhelm Meister lebt Hans Castorp, Thomas Manns Antiheld, ausgesprochen stationär, nämlich in einem Sanatorium für Lungenkranke in den Schweizer Alpen. Wirklich krank ist er eigentlich nicht, eher ein "Sorgenkind des Lebens", wie es bei Thomas Mann heißt. Die Bildung entsteht durch Gespräche mit anderen Patienten: seinem Vetter Joachim Ziemßen, den beiden Rede-Duellanten Naphta und Settembrini, durch Lektüre, durch die Begegnung mit seinem "Kurschatten" Clawdia Chauchat und – als Höhepunkt – durch eine Vision hoch oben im Schneegebirge auf einem einsamen Skiausflug, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Der Zauberberg erfordert einiges Durchhaltevermögen, vor allem wenn man ihn – wie von Thomas Mann empfohlen – zweimal liest, um die literarische Leitmotivtechnik richtig würdigen zu können.

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6. Vikram Seth: Eine gute Partie

Ein Roman wie ein halber Kontinent: knapp 2000 Seiten Dünndruckpapier, die davon handeln, den richtigen Bräutigam für eine junge Frau in Indien zu finden. Aber nein, das ist keine Lovestory, höchstens ganz dezent mal nebenbei, und dann stehen eher andere Personen im Brennpunkt des Geschehens. Denn das ist eher ein riesiger gewebter Teppich, in dem sich die Lebensfäden der Mitglieder dreier Familien begegnen, miteinander verstricken, sich lösen, sich erneut begegnen … Ein Panorama der indischen Gesellschaft, von höchsten Regierungskreisen bis hin zu ländlichen Dorfbewohnern, ein Aufeinanderprallen von Selbstbestimmung und Tradition, von Moslems und Hindus, ein Nebeneinander von arrangierter Ehe, verbotener Romanze, der Rivalität um eine Kurtisane, von Missbrauch und der Liebe zwischen zwei Männern.

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7. J. R. R. Tolkien: Der Herr der Ringe

Last but not least das Fantasy-Epos schlechthin. Ja, ich meine das Buch bzw. die drei Bücher, falls man eine dreibändige Ausgabe hat. Fantasy gibt es nicht nur im Kino und sie besteht nicht nur aus grandiosen Schlachten und Gemetzel. Tolkiens Roman ist nichts für Krimileser und Actionfans. Die ersten 100 Seiten sind wirklich sehr zäh, aber dann ist man so langsam drin in Mittelerde und wird dieses Land nie wieder ganz verlassen. Denn hinter allen Elben, Orks, Zauberern und Halblingen lauert nur eine einzige Frage, die sich jeder einzelne immer wieder selbst stellen muss: Wird es mir gelingen, den Einen Ring in mir zu vernichten? Das mag trivial sein, doch das ändert weder etwas an der Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten, noch an der Zeitlosigkeit von Tolkiens mythischer Erzählung.

Federspiel, am 12.12.2013
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Bildquelle:
Bild: openclipart.com (Lesen lohnt sich: Die Romane der viktorianischen Schriftstellerin E...)
Karin Scherbart (Asterix bei den Pikten – Rezension)

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