Die Kernthesen des Anarchismus

Wörtlich bedeutet Anarchie Herrschaftslosigkeit, bezeichnet also einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft, und damit auch von hierarchischen Strukturen. Dabei wird die Herrschaft von Menschen über Menschen als repressive Ausübung von Macht verstanden, und Hierarchien werden als Formen der Unterdrückung von individueller und kollektiver Freiheit begriffen. Deshalb wird vom Anarchismus die Aufhebung von Herrschaftsverhältnissen und Hierarchien in einem umfassenden Sinn angestrebt – bis hin zur Auflösung der staatlichen Organisiertheit der menschlichen Gesellschaft. Das Modell einer anarchistischen Gesellschaft beruht folglich auf dem freiwilligen Zusammenschluss von gleichberechtigten, selbstbestimmten, und nach Selbstverwirklichung strebenden Individuen und damit auf Selbstorganisation. Als wichtigste politische Einheiten gelten Stadtteilorganisationen, in denen lokale Angelegenheiten gemeinsam entschieden werden. Dementsprechend wird auch eine selbstorganisierte Wirtschaft angestrebt. Wichtig sind hier Genossenschaften. Mit einer solchen gesellschaftlichen Ordnung vereinbar sind nicht-repressive Machtverhältnisse wie die Beeinflussung durch freiwillig akzeptierte Autoritäten (Mentoren, Trainer, Berater, etc.). In einer anarchistischen Gesellschaft sind auch soziale Normen und Regeln wichtig, die der institutionalisierten Abwehr der Entstehung von Herrschaft dienen. In einer anarchistischen Gesellschaft soll also nicht jede gesellschaftliche Ordnung aufgehoben werden, die Ordnung soll allerdings auf Freiwilligkeit beruhen. Anarchismus ist mit anderen Worten eine Gesellschaft ohne Herrschaft, aber nicht ohne Gesetz und Ordnung. Anarchismus ist Ordnung ohne Herrschaft.

Anarchismus (Bild: Nemo/Pixabay.com)

Selbstorganisation (Bild: geralt/Pixabay.com)

Die Kernthesen des Neoliberalismus

Den Neoliberalismus bzw. Marktfundamentalismus geprägt haben die Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman als wichtigster Vertreter der sogenannten Chicago-Schule. Sie bewirkten vor allem die strikt anti-etatistische, also staatsfeindliche, Ausrichtung des Neoliberalismus. Grundlage dafür ist die Überzeugung, dass alle Probleme ohne Staat besser gelöst werden könnten oder sogar erst durch den Einfluss des Staates verursacht würden. So sei ein Monopol kein Problem mehr, weil die Gewinne des Monopolisten automatisch die Konkurrenten anspornen würden. Nur staatliche oder staatlich unterstützte Monopole oder Kartelle seien gefährlich. Ferner wird die Möglichkeit, dass eine zu geringe Nachfrage eine konjunkturelle Krise hervorrufen könnte, rundweg bestritten. Jede Krise könne nur das Ergebnis von Strukturschwächen sein, die eine zu starke Regulierung, ein zu großes wirtschaftliches Gewicht des Staates oder eine vom Staat beeinflusste, zu aktive Zentralbank verschuldet hätten. Das Feindbild der Neoliberalen schlechthin aber ist der Sozialstaat. In diesem Zusammenhang wird argumentiert, die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die der Sozialstaat anstrebe, sei ungerecht gegenüber den Tüchtigen und Erfolgreichen und damit gegenüber den Leistungsträgern. In dieser Logik wird Steuerprogression, also das Prinzip, dass nach der Leistungsfähigkeit besteuert wird, abgelehnt als Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip, und die als solche empfundene Zwangsmitgliedschaft in den Sozialversicherungen wird als Einschränkung der individuellen Freiheit betrachtet. Insgesamt ist nach neoliberaler Auffassung Sozialstaatlichkeit nicht vereinbar mit Freiheit.

Der Tüchtige (Bild: geralt/Pixabay.com)

Geld ist Freiheit (Bild: geralt/Pixabay.com)

Die Herrschsucht der Neoliberalen

Auf den ersten Blick haben Anarchismus und Neoliberalismus radikalen Individualismus, also radikale Freiheitsliebe, und Staatsfeindschaft gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit löst sich jedoch in Luft auf, wenn man die Konsequenzen, die Freiheitsliebe und Staatsfeindschaft in Anarchismus und Neoliberalismus haben, näher unter die Lupe nimmt. So wollen die Anarchisten, wie gezeigt, herrschaftsfrei nach Regeln leben, also – wie es der Blogger Roberto J. De Lapuente formuliert hat – sich nach dem richten, was die Gesellschaft als Kodex entworfen hat, während die Neoliberalen genau das nicht praktizieren. Das heißt: Die Neoliberalen, aber nicht die Anarchisten, verstehen unter Freiheit Regellosigkeit, und die Neoliberalen bekämpfen die Ausübung von Herrschaft durch den Staat nur deshalb, weil sie selber herrschen wollen. De Lapuente wörtlich: "…ihre Freiheit von staatlicher Herrschaft ist eine unbeherrschte, rücksichtslose, jähzornige und wutschnaubende. Sie sind zu den Herrschern geworden und wollen immer noch mehr Herrschaft - sie sind herrschsüchtig. Und genau das ist und will das anarchistische Ideal vermieden wissen." Im Unterschied zu den Anarchisten hätten die Neoliberalen gar keine Ideale, sie seien Nihilisten. "Sie glauben an nichts, nur an Profite; der Weg zum Profit ist gepflastert mit dem Nichts, denn nichts ist ihnen heilig, nur das Ziel ist der Weg."

Die Macht des Marktes

Auch die von neoliberaler Seite erhobenen Forderungen nach weniger Eingreifen des Staates und mehr Verantwortung für den Einzelnen scheinen sich zu decken mit den anarchistischen Forderungen nach mehr Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben. Hier besteht ebenfalls – folgt man der Gestalttherapeutin Katharina Stahlmann - nur eine äußere Ähnlichkeit, denn Grundlage der derzeitigen politischen Entwicklung in Richtung weniger staatlicher Sicherungssysteme seien die Forderungen des Markes. "Es geht also nicht um die Erweiterung persönlicher, herrschaftsfreier Räume, sondern um das Ausliefern der Menschen an eine noch weniger fassbare Macht, als es der Staat ist. Die neue Herrschaft heißt "Gesetz des Marktes"." Durch die neoliberale Deregulierung werden also die Menschen für den Markt instrumentalisiert. Gleichzeitig wird ihnen suggeriert, dass sie wahrhaft frei seien. Das heißt, es wird den Menschen eingeredet, sie müssten sich den Bedingungen "des Marktes" so gut wie möglich unterwerfen, also sich quasi selbst instrumentalisieren, um die angebotene "Freiheit" für sich optimal nutzen zu können.

Der Herr im Haus (Bild: geralt/Pixabay.com)

Des einen Freund ist des anderen Feind

Die bisherigen Überlegungen machen meiner Meinung nach deutlich, dass die Aversion der Anarchisten und der Neoliberalen gegenüber "dem Staat" auf unterschiedlichen Vorstellungen von der Funktionsweise des Staates beruht. Das heißt: Während die Feindschaft der Anarchisten vorzugsweise dem Staat als Repressionsapparat, also dem Staat als Garanten von "law and order", gilt, richtet sich die Feindschaft der Neoliberalen vor allem gegen den Sozialstaat. Der Staat als Repressionsapparat ist demgegenüber für sie unverzichtbar. Umgekehrt haben die Anarchisten wohl weniger gegen den Sozialstaat einzuwenden. Meines Erachtens deuten diese unterschiedlichen Negativbilder vom Staat daraufhin, dass sowohl Anarchisten als auch Neoliberale ein verzerrtes, einseitiges Verständnis von den Aufgaben und Funktionen "des Staates" entwickelt haben, so dass man zunächst einmal definieren müsste, was eigentlich "der Staat" ist.

Was ist der Staat?

Zunächst fungiert der Staat als Rechtsstaat, wacht also über die Einhaltung der Gesetze. Zweitens schafft der Staat die Rahmenbedingungen für das Funktionieren der jeweiligen Wirtschaftsordnung. Der moderne Staat ist drittens ein Sozialstaat, sorgt also, vereinfacht ausgedrückt, für sozialen Ausgleich. Dabei darf man sich "den Staat" jedoch nicht als einen quasi monolithischen Block vorstellen, der den "Staatsbürgern" als eine ihnen äußerliche Macht gegenübersteht, sondern er stellt ein komplexes soziales Geflecht, eine institutionelle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse dar, ist also ein Abbild der gesellschaftlichen Gegebenheiten. Der Staat besteht mit anderen Worten aus einer Vielzahl von Institutionen auf verschiedenen Ebenen, die sehr unterschiedliche und nicht selten gegensätzliche Perspektiven verfolgen. Deshalb kommt es auch regelmäßig zu Konflikten innerhalb des Staates und seiner Apparate. Ferner darf man sich "den Staat" nicht als eine Art "Machtbehälter" vorstellen, in dem die Macht konzentriert ist, so dass man sich diese nur aneignen muss, um die Herrschaftsverhältnisse umzuwälzen. Macht ist mit anderen Worten nicht im Staatsapparat konzentriert, sondern Machtverhältnisse sind allgegenwärtig. In diesem Zusammenhang liegt natürlich die Vorstellung von Machtmissbrauch nahe, und Machtmissbrauch in großem Stil ist das Charakteristikum des Unrechtsstaates. Das heißt: Im Unrechtsstaat herrschen diktatorische Machtverhältnisse, politische Entscheidungen werden mit Gewalt durchgesetzt. In diesem Fall ist der Staat in der Tat reduziert auf einen Repressionsapparat.

Oben und unten (Bild: PublicDomainPictures/Pixabay.com)

Gleichberechtigte (Bild: geralt/Pixabay.com)

Ist "Staatenlosigkeit" möglich?

Bei einem Zusammenleben der Menschen ohne staatlichen Überbau – wie es den Anarchisten als Ideal vorschwebt – müssten meines Erachtens folgende Bedingungen erfüllt sein. Als Grundlage des Zusammenlebens müsste die sogenannte "Goldene Regel" gelten, die besagt: "Behandle andere Menschen so, wie Du selbst behandelt werden willst!". Dann müsste es eine große Gleichheit der Einkommensverhältnisse geben. Die Menschen selbst müssten hinsichtlich Bildung und Persönlichkeitsstruktur sehr homogen sein. Dabei wäre natürlich der psychisch gesunde Mensch mit starkem Selbstwertgefühl die Norm. Denn nur psychisch gesunde Menschen können das Maß an Altruismus und Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf andere aufbringen, dass für ein selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Zusammenleben mit anderen erforderlich ist. Es müsste deshalb auch möglich sein, Einflüsse, die sich auf die Entwicklung des Menschen negativ auswirken, soweit wie möglich auszuschalten, damit nicht wieder "unangenehme Zeitgenossen" heranwachsen, die nach Besitz und Macht streben.-  Ich glaube, jedem ist klar, wie weit wir noch von solchen paradiesischen Zuständen entfernt sind. Meine Schlussfolgerung  lautet daher, dass wir noch eine Weile staatliche Strukturen benötigen, wobei es natürlich nicht gleichgültig ist, wie diese aussehen.

Ein "anarchistischer Staat"

Das Optimum, das derzeit möglicherweise erreichbar wäre, wäre ein Staat, der im Einklang steht mit anarchistischen Idealen. Und zwar müsste dies ein Staat sein, der nicht auf hierarchischen Strukturen beruht, in dem also die einzelnen Individuen ein starkes Mitspracherecht besitzen, und es müsste ein Staat sein, in dem die soziale Ungleichheit auf ein Minimum reduziert ist. Zum einen müsste also die Ausübung von Herrschaft erschwert und kontrolliert werden. Dazu könnte die Dezentralisierung politischer Entscheidungen beitragen, also die Delegierung politischer Entscheidungen an kleine autonome Einheiten, die sich selbst verwalten. Zum anderen müsste es ein starker Sozialstaat sein, während gleichzeitig die Wirtschaft florieren müsste, damit die "sozialen Wohltaten" finanziert werden können. Diesbezüglich könnte meines Erachtens der skandinavische Wohlfahrtsstaat ein Vorbild sein, da dieser Gleichheit, soziale Sicherheit und eine konkurrenzfähige Marktwirtschaft miteinander verbindet. Und zwar sind beim skandinavischen Modell des Wohlfahrtsstaates die Bildungsausgaben der Dreh- und Angelpunkt, um gleichzeitig soziale Gleichheit und Wirtschaftswachstum zu erreichen. Das heißt: Hier sollen die Potentiale der gesamten Bevölkerung breit zur Entfaltung gebracht werden, und das wird dadurch erreicht, dass Menschen mit unterschiedlichem familiären Hintergrund institutionell gesichert gleiche Chancen erhalten. Vom Ideal bzw. Dogma der Vollbeschäftigung sollte man sich jedoch meiner Meinung nach verabschieden. Das heißt: Es müsste die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens hinzukommen, wie ich es an anderer Stelle beschrieben habe, damit der Einzelne auch die Freiheit der Wahl zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeitsformen hat.

Fazit

Anarchismus und Neoliberalismus sind zwei politische Ideologien, die eine gemeinsame Grundlage zu haben scheinen, nämlich die Feindschaft gegenüber "dem Staat". Doch bei näherer Betrachtung unterscheiden sich die beiden Ideologien wie "Feuer und Wasser". Dabei ist meines Erachtens bemerkenswert, dass sich die Vertreter beider Ideologien auch de facto als politische Gegner gegenüberstehen. So kämpfen die modernen Anarchisten - ich möchte hier die "Occupy-Wall-Street"-Bewegung und die Hacker-Gruppierung "Anonymous" nennen – gegen den Finanzmarktkapitalismus, dessen Repräsentanten die Ideologie des Neoliberalismus idealtypisch verkörpern.

Bildnachweis

  •  Pixabay.com
  •  Rainer Sturm/pixelio.de
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