Wider alle Erwartungen

Pinker stellt in seinem Buch fest, dass die Gewalt in der Menschheitsgeschichte trotz zwischenzeitlicher Anstiege tendenziell abgenommen hat. Nachdem die Weltkriege des 20. Jahrhunderts überstanden waren, geschah aber etwas scheinbar Unerklärliches: 

"Das Wiederaufflammen der Gewalt in den 1960er Jahren widersprach allen Erwartungen. Es war ein Jahrzehnt mit beispiellosem Wachstum, nahezu Vollbeschäftigung und einer wirtschaftlichen Gleichberechtigung, an die wir heute mit nostalgischen Gefühlen zurückdenken. Was die Rassen anging, gab es historische Fortschritte, und staatliche Sozialprogramme blühten auf, ganz zu schweigen von den medizinischen Fortschritten, durch die Opfer von Schuss- und Stichverletzungen häufiger überlebten.

Im Jahr 1962 hätte jeder Gesellschaftstheoretiker mit Freude gewettet, dass solche günstigen Bedingungen zu einer Epoche mit weiterhin niedrigen Verbrechensquoten führen würden. Und damit hätte er sein letztes Hemd verloren.

Warum begann damals in der westlichen Welt eine drei Jahrzehnte andauernde Verbrechenswelle, von der wir uns bis heute nicht vollständig erholt haben?" (S. 171) 

"Es liegt nahe, mit der Suche nach einer Antwort bei der Bevölkerungsentwicklung zu beginnen. […] Die naheliegende Schlussfolgerung lautet also: Der Verbrechensboom war einfach ein Widerhall des Babybooms. Aber leider geben das die Zahlen nicht her. Läge es nur daran, dass es mehr Teenager und über Zwanzigjährige gab, die Verbrechen in der üblichen Häufigkeit begingen, hätte die Zahl der Verbrechen von 1960 bis 1970 um 13 Prozent ansteigen müssen, nicht aber um 135 Prozent – so groß war der Anstieg tatsächlich.

Viele Kriminologen sind zu dem Schluss gelangt, dass man die Verbrechenswelle der 1960er Jahre nicht nur mit den üblichen sozioökonomischen Variablen erklären kann; ihre Triebkraft war vielmehr eine Umwälzung der kulturellen Normen." (S. 172) 

"Die neue Generation bemühte sich in vielerlei Hinsicht darum, die von Elias dokumentierte, seit dem achten Jahrhundert andauernde Entwicklung zurückzudrängen.

 

Protagonisten der Dezivilisation: Die "Rolling Stones" (Bild: Larry Rogers, wikipedia)

Die geburtenstarken Jahrgänge […] teilten ein Gefühl der Solidarität, das sie mutig machte, als sei ihre Generation eine ethnische Gruppe oder Nation. (Ein Jahrzehnt später war großspurig von der 'Woodstock-Nation' die Rede.) […] durch das Fernsehen erfuhren sie […], dass andere Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge die gleichen Erfahrungen machten […] Ganz ähnlich wie eine unzufriedene Bevölkerung, die sich nur dann in der Masse stark fühlt, wenn sie sich zu einer Demonstration zusammenfindet, so sahen auch die geburtenstarken Jahrgänge, wie junge Leute ihres Schlages im Publikum der Ed Sullivan Show zur Musik der Rolling Stones einen draufmachten; sie wussten, dass alle anderen jungen Menschen in Amerika das Gleiche taten, und sie wussten, dass die anderen wussten, dass sie es wussten.

Die geburtenstarken Jahrgänge wurden auch durch ein weiteres technisches Mittel der Solidarität zusammengehalten […]: das Transistorradio." (S. 173f).

"Verstärkt wurde der Entzivilisationsprozess durch einen Trend, der während des gesamten 20. Jahrhunderts an Schubkraft gewonnen hatte. Der Soziologe Cas Wouters […] vertrat die Ansicht, dass der europäische Zivilisationsprozess am Ende von einem Informalisierungsprozess abgelöst wurde. Im Laufe des Zivilisationsprozesses hatten sich Normen und Sitten von der Oberschicht aus nach unten durchgesetzt." (S. 174)

Umkehrung der Werte

Hier wollen wir kurz innehalten und resümieren: Nachdem Pinker die Bevölkerungsentwicklung als wesentliche Ursache ausgeschlossen hat, kommt er auf die "Umwälzung der kulturellen Normen" als Grundlage der Entzivilisation zu sprechen und stellt einen Zusammenhang mit den neuen Massenmedien Fernsehen und Radio her; mit den Rolling Stones wird ausdrücklich eine Rockgruppe als Beispiel genannt. 

"Die Abwertung des Establishments hatte aber unter anderem auch den Nebeneffekt, dass die aristokratische und bürgerliche Lebensweise, die im Laufe der Jahrhunderte weniger gewalttätig geworden war als die der Arbeiter- und Unterschicht, an Ansehen verlor. Die Werte sickerten jetzt nicht mehr von oben nach unten, sondern sie stiegen von der Straße nach oben, ein Prozess, den man später als 'Proletarisierung' oder 'Herunterdefinieren der sittlichen Kriterien' bezeichnete." (S. 175) 

Genau das hatten bereits 1989 Reinhard Flender und Hermann Rauhe diagnostiziert, und auch sie haben die Ursache in der Popkultur, genauer: in der Rockmusik gesehen: "Nun trat das Paradoxe ein, daß sich diese Kinder der Ober- und Mittelschicht infolge des Rockfiebers mit den ‘wilden' halbstarken Arbeiterkindern zu identifizieren beginnen. Diese Tendenz ‘nach unten' ist von größter Bedeutsamkeit für die Entwicklung der Rockmusik zu einer Massenbewegung. [...] Die weißen Arbeiterkinder identifizieren sich mit den Ausdrucksformen der schwarzen Unterschicht und die Mittelstandskinder identifizieren sich mich den Ausdrucksformen der Arbeiterkinder – dieser historisch einmalige gesellschaftliche Prozeß hat zu einer breiten gesellschaftlichen Basis der Rockmusik geführt.” (Popmusik. Aspekte ihrer Gestalt, Funktionen, Wirkung und Ästhetik, Darmstadt 1989, S. 100). 

Pinker fährt fort: "Diese Strömungen wirkten der Welle der Zivilisation entgegen, und das wurde in der Populärkultur jener Epoche zelebriert. [… ] Spontaneität, Selbstverwirklichung und das Ablegen von Hemmungen wurden zu Kardinaltugenden". (S. 175f). 

Hier wird es nochmals deutlich: Die Populärkultur "zelebriert" den Werteverfall und kann – siehe oben – über die Massenmedien eine enorme Wirksamkeit erreichen. Die klanglichen Mittel der modernen populären Musik appellieren an die niedersten Instinkte des Menschen und können wie eine Droge den Charakter verändern.

Beispiele

"'Do It 'Til you're Satisfied (What ever it is)' ['Mach' es, bist [sic] du zufrieden bist (ganz gleich, was es ist')] lautete der Refrain eines beliebten Songs von B. T. Express. Der Körper wurde über den Geist gestellt. Keith Richards prahlte, Rock'n'roll sei 'Musik vom Hals abwärts'. […] und die Gruppe The Who sang in 'My Generation': 'Hope I die before I get old' ['Hoffentlich sterbe ich, bevor ich alt werde']. Geistige Gesundheit wurde verunglimpft […] Und dann gab es natürlich die Drogen.

Ein anderes Angriffsziel der Gegenkultur war das Ideal, der Einzelne solle in ein Netz von Abhängigkeiten eingebettet sein, die ihm in stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen und Organisationen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen auferlegen. Wenn man ein Bild sucht, das diesem Ideal so krass wie möglich widerspricht, dann ist es ein rollender Stein. Dieses Bild, das ursprünglich aus einem Song von Muddy Waters stammt, fand im Zeitgeist so großen Widerhall, dass es der Name von drei Ikonen jener Kultur wurde: der Rockband, des Magazins und des berühmten Songs von Bob Dylan […]. Der Gedanke, die eigenen Interessen im Beruf mit denen anderer zu koordinieren, galt als Ausverkauf." (S. 176).

Bob Dylan (Bild: [Public domain], wikipedia)

 

"Ähnlich das erste Album der Band Chicago (die damals Chicago Transit Authority hieß): Dort lautet eine Textstelle [...] ['Weiß eigentlich jemand, wie spät es ist? Kümmert es eigentlich jemanden? Wenn ja, kann ich mir nicht vorstellen, warum.'] […]

Neben Selbstbeherrschung und gesellschaftlicher Einbindung wurde noch ein drittes Ideal angegriffen: die Ehe und das Familienleben […]

[…] die Popkultur feierte tatsächlich die Abkehr von den Standards der Sauberkeit, des Eigentums und der sexuellen Mäßigung." (S. 177) 

"[...] ein Bild aus Woodstock, das dauerhaft in Erinnerung blieb, zeigte nackte Konzertbesucher, die sich im Schlamm wälzten. Die Umkehr der Konventionen in Sachen Anstand kann man allein an Schallplattencovern dokumentieren. Da gab es The Who Sell Out mit einem soßentriefenden Roger Daltrey, der in Baked Beans badete; Yesterday and Today von den Beatles, auf dem die liebenswerten Piklzköpfe mit Brocken aus rohem Fleisch und enthaupteten Puppen verziert sind […]; Beggar's Banquet von den Rolling Stones mit dem (ursprünglich zensierten) Foto einer verschmutzten öffentlichen Toilette; und Who's Next mit den vier Musikern, die gerade ihre Hosenschlitze schließen, während sie sich von einer urinverspritzten Wand entfernen.

 

Die Verhöhnung des Anstandes erstreckte sich auch auf berühmte Live-Auftritte, als zum Beispiel Jimi Hendrix in Monterey so tat, als würde er mit seinem Verstärker kopulieren.

[…] die Verherrlichung der Zügellosigkeit schlug in Nachsicht um gegenüber der Gewalt und schließlich in Gewalt selbst um."(S. 178) 

Es folgen als weitere Beispiele (S. 178f): The Who und Keith Moon sowie Lieder der Rolling Stones; das Konzert in Altamont.

Verhöhnung des Anstandes: Jimi Hendrix (Bild: A. Vente, wikipedia)

Einstellungen und Popkultur verstärken sich gegenseitig

"Als in den 1950er Jahren die Rockmusik auf der Bildfläche erschien, wurde sie von Politikern und Geistlichen verteufelt, weil sie die Moral untergrabe und der Gesetzlosigkeit Vorschub leiste. […] Müssen wir heute – Schluck – eingestehen, dass sie recht hatten? […] möglicherweise war ein dritter Faktor, der Widerstand gegen die Werte des Zivilisationsprozesses, die Ursache sowohl für die Veränderungen der Popkultur als auch für die Zunahme des gewalttätigen Verhaltens. […] Andererseits verstärkten Einstellungen und Popkultur sich mit Sicherheit gegenseitig. Und an den Rändern, wo entsprechend disponierte Personen und Subkulturen sich auf diese oder jene Weise anregen lassen, gab es viele plausible Kausalbeziehungen zwischen der Geisteshaltung der Entzivilisation und konkreter Gewalt.

Eine davon war die Verstümmelung des Strafjustiz-Leviathans." (S. 180) 

Auf S. 181 weitere Beispiele aus der Popularmusik: Beatles, Neil Young, Jimi Hendrix, Ronnie Hawkins.

Die Vermutung, dass "möglicherweise [...] ein dritter Faktor, der Widerstand gegen die Werte des Zivilisationsprozesses, die Ursache sowohl für die Veränderungen der Popkultur als auch für die Zunahme des gewalttätigen Verhaltens" war, wird von Pinker nicht weiter vertieft. Aber die Frage ist doch, woher dieser Widerstand kam! Dass sich "Einstellungen und Popkultur [...] mit Sicherheit gegenseitig [verstärkten]", ist natürlich richtig, und man kann sagen, dass es ohne diese Einstellungen keine Popkultur in dieser Form gegeben hätte. Der springende Punkt ist, dass es solche Einstellungen bei einzelnen Menschen natürlich schon immer gab, dass sie jedoch erst durch die klanglichen Mittel der modernen populären Musik, in Verbindung mit der neuen Verbreitungsmöglichkeit durch die Massenmedien, zur vorherrschenden Einstellung der Jugend, und, indem diese älter wurde, zur vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellung überhaupt werden konnte. Aus diesem Grund ist die Kausalität von der Popkultur zu den Einstellungen weit größer als diejenige von den Einstellungen zur Popkultur: Die Popkultur ist somit in der Tat hauptverantwortlich für die Änderung der Einstellungen, d.h. für den Werteverfall und damit für den dramatischen Anstieg von Kriminalität und Gewalt. 

Im hinteren Teil des Buches kommt Pinker kurz auf das Thema zurück:

"Die Ära, in der die Lockerung der Selbstbeherrschung in jüngerer Zeit am stärksten verherrlicht wurde, waren sicher die verbrechensanfälligen 1960er Jahre: Mach dein Ding, hieß es damals, lass' die Sau raus, Hauptsache, es fühlt sich gut an, auf ins Abenteuer. Besonders deutlich wird die Zügellosigkeit in Musikfilmen aus jener Zeit" (S. 903).

Die USA bekämpfen Verbrechen besser als Europa

In den 1990er Jahren gelang es in den USA, die Gewaltraten wieder zu senken. Das spricht jedoch nicht gegen die Popkultur-These, sondern liegt daran, dass die Politik geeignete polizeiliche und juristische, also "zivilisierende" Maßnahmen ergriff. Pinker hält

"zwei übergeordnete Erklärungen angesichts der vorliegenden Befunde für besonders plausibel. Die erste lautet: Leviathan [der Staat] wurde größer, klüger und leistungsfähiger. Die zweite: Der Zivilisationsprozess, um dessen Umkehrung sich die Gegenkultur in den 1960er Jahren bemüht hat, nahm wieder seinen Fortgang." (S. 192). 

Es folgt eine Darstellung der in den USA ergriffenen polizeilichen und juristischen Maßnahmen: Höhere Strafen, mehr Gefängnisse und Inhaftierungen, "Krieg gegen die Drogen", "Aufblähung des Polizeiapparats", konsequente Ahndung auch kleinerer Vergehen.

Aber wie erklärt sich die Wiederaufnahme des Zivilisationsprozesses? 

"Der Zusammenbruch des Kommunismus und die Erkenntnis, dass er wirtschaftlich und menschlich in die Katastrophe geführt hatte, nahmen der Gewalt ihre revolutionäre Romantik und weckten Zweifel an der Vorstellung, Reichtum mit Gewehren umzuverteilen. Eine stärkere Wahrnehmung von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch ließ das Prinzip 'es fühlt sich gut an, also mach' es' nicht mehr befreiend, sondern widerlich erscheinen. Und die schiere Schlechtigkeit der Gewalt in den amerikanischen Innenstädten […] konnte man nicht mehr als verständliche Reaktion auf Rassismus oder Armut wegdiskutieren." (S. 197f). 

Gewaltkriminalität in den USA 1960 ...

Gewaltkriminalität in den USA 1960 - 2011 (Bild: FBI / flickr.com)

Der Einfluss der Popkultur stößt dort an seine Grenzen, wo die Menschen die negativen Folgen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Selbst kriminell zu werden ist das eine, aber selbst zum Opfer von Kriminalität zu werden, etwas anderes. Sobald die Menschen das Gefühl haben, in der entzivilisierten Gesellschaft auf die Verliererseite zu geraten, wird bei ihnen ein Umdenken stattfinden. Gerade Gewaltkriminalität, um die es bei Pinker geht, hat ein höheres Ahndungsrisiko, und man wird leicht selbst zum Opfer. Anders ist es bei Delikten, die nicht gegen Privatpersonen gerichtet sind, bei denen also der Durchschnittsbürger selbst scheinbar nicht zum Opfer werden kann, wie Steuerhinterziehung und Versicherungsbetrug, aber auch Ladendiebstahl. Einige Zahlen aus Deutschland:

"Von 1981 - 1995 erhöhte sich die Akzeptanz von Steuerhinterziehung um 54 %, die von Versicherungsbetrug verdoppelte sich zwischen 1985 und 2004. In einer Netzumfrage 2005/06 zum Verhalten in Alltagssituationen entschieden sich je nach Frage bis zu 76 % (Rabattkartenbetrug) für eine Straftat; nur 19 % gaben an 'Normen und Werte sind sehr wichtig für mich.' Im Jahr 2007 hat nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft fast jeder Dritte Schwarzarbeit in Auftrag gegeben, und jeder Fünfte sie geleistet." (Klaus Miehling: Gewaltmusik. Populäre Musik und Werteverfall, Berlin 2010, S. 14)

Die Menschen sind also nicht besser geworden; sie sorgen sich nur um ihre eigene Haut.

In Europa war denn der Rückgang der Gewalt und der Kriminalität insgesamt weitaus geringer, da kaum Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, und er lässt sich schon dadurch erklären, dass der Anteil der kriminellsten Altersgruppen in der Bevölkerung, der Jugendlichen und jungen Männer, rückläufig ist.

Zwei Wege zur Fortsetzung des Zivilisationsprozesses

Es wird kaum möglich sein, eine gewaltmediale Subkultur völlig zu verhindern; aber die Popkultur darf nicht länger die Leitkultur der Gesellschaft sein; eine Leitkultur, die uns aus fast allen Radio- und Fernsehkanälen entgegenplärrt, die verharmlost, geduldet, ja sogar gefeiert und gefördert wird! 

Verständlicherweise war es die Hauptaussage von Pinkers Buch, welche es in die Schlagzeilen brachte: dass die Gewalt auf lange Sicht in der Menschheitsgeschichte abgenommen hat. Das Kapitel über den Dezivilisationsprozess ist dabei in den Hintergrund geraten. Aber es ist genau dieses Kapitel, das für uns besondere Aktualität und Bedeutung hat und die wichtigste Lektion des Buches enthält: Der Zivilisationsprozess ist kein Naturgesetz, sondern immer wieder in Frage gestellt. Um ihn fortzusetzen, müssen zwei Wege beschritten werden: Polizeiliche und juristische Maßnahmen nach dem Vorbild der USA (und idealerweise noch darüber hinaus), und die Minimierung des popkulturellen Einflusses.

Klaus_Miehling, am 25.04.2015


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