Das Leben unter New York - Einblicke in eine dem "Normalmenschen" rätselhafte Welt

Ich bin selber nur zufällig auf das Thema und das Buch aufmerksam geworden. Beim Lesen eines Krimis an einem verregneten Sonntagnachmittag. Die Tunnel-Menschen spielten am Rande der Handlung eine Rolle. Eine Anmerkung des Autors machte darauf aufmerksam, dass es sich bei den dargestellten Tunnel-Bewohnern um keine Fiktion handelt. Der Autor gab auch gleich den Hinweis auf das Buch von Jennifer Toth. Eine Taschenbuchausgabe tristeste tatsächlich ein Schattendasein in meiner örtlichen Bücherei.
Unter der Stadt New York befindet sich ein riesiges Labyrinth aus U-Bahn-Tunneln, Gas, Wasser, Kabel- und Abwasserkanälen. Es gibt U-Bahn Versuchsstrecken aus vergangener Zeit mit / und stillgelegte(n) U-Bahnhöfe(n). Dazu ein Gewirr aus künstlichen und natürlichen Gängen. Es geht teilweise bis zu sieben Etagen in die Tiefe und einen vollständigen Plan des gesamten Systems gibt es nicht. Die Autorin wagt sich, in kundiger Begleitung, in diese Abgründe und Ihr begegnet Erstaunliches.

Abgesehen von den "normalen Obdachlosen, Alkohol- und Drogenabhängigen und psychisch Kranken (Verwirrten)" haben sich regelrechte kleine organisierte Gemeinden gegründet. In diesen Gemeinden leben auch Familien mit Kindern (!). (Bei den Kindern waren die Tunnelbewohner aber eher schweigsam und ablehnend. Kinder wurden im Hintergrund gehalten, auch aus Angst vor den Behörden!) In diesen Gemeinden herrscht eine regelrechte Arbeitsteilung. Feuerholz, Essen (aus Spenden, Essensausgaben von wohltätigen Organisationen und Abfällen von Restaurants), Wasser wird in Aufgabenteilung beschafft. Die Gemeinden kommunizieren über ausgewählte Läufer untereinander. Diese Läufer bringen Kleidung aus Spenden, Medikamente und Informationen über neue Essensausgaben zwischen den Gemeinden hin und her. In diesen Gemeinden haben sich teilweise Strukturen mit "Bürgermeistern" gebildet, die der überirdischen Welt ähneln. Es gibt nicht wenige, die, zumindest zeitweise, einer geregelten Arbeit nachgehen. Nach der Arbeit gehen sie dann wieder nach Hause in den Tunnel. Jenniffer Toth (die Autorin) gewinnt das Vertauen von einigen dieser Menschen, die Ihr ihre Geschichte erzählen. Es sind natürlich die Geschichten von Abstiegskarrieren, wie man sie kennt. Gewalterfahrungen, Drogen, Kriminalität, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, die sie in der "normalen Gesellschaft" erfahren haben. In dieser unterirdischen Welt sehen und bekommen sie in den Gemeinden Ihre zweite Chance. Nicht wenige dieser Bewohner haben diese Welt (zumindest für eine Zeit) freiwillig gewählt. 

Die Tunnel - kein Ort zum Leben

Es gibt allerdings keinen Grund den Untergrund von New York romantisch zu verklären. Sicher kein neuer "alternativer Lebensentwurf von Aussteigern" aus der Gesellschaft. Die Autorin und die Tunnelbewohner beschreiben schonungslos das Leben im Untergrund. 

Die Geschichten dieser Menschen, auch Maulwurfmenschen genannt, sind geprägt von Gewalterfahrungen, Drogen, Alkoholismus, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Eben die typischen Abstiegskarrieren, hier einmal im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um das nackte Überleben. Der Gestank, Müll, Ungeziefer und die Luft ist teilweise unerträglich. Die Bewohner ernähren sich teilweise von Gleishasen (Ratten die gefangen und gegrillt werden). Wer einmal in diese Welt geraten ist, der hat im Allgemeinen noch eine Lebenserwartung von 3-5 Jahren. Viele sterben an ganz gewöhnlichen Krankheiten wie Diabetes, Infektionen und Drogen. Nicht wenige sterben auch an Stromschlägen, weil sie versehentlich auf Stromschienen treten. Das Leben in Dunkelheit, Unrat und Gestank weckt die niederen Instinkte des Überlebens im Menschen. Verrohung, Angst und Gewalt sind die Folgen. 

Schlussbemerkung

Wahrlich keine Lektüre für einen entspannten Sonntagnachmittag. Die Autorin Jennifer Toth berichtet im Epilog über Ausgebranntsein und Albträumen, für einige Zeit, nach ihren den Recherchen. Meiner Ansicht sollte das Buch eine FSK ab 25 tragen. Nichts gegen die jüngeren Leser unter uns. Man muss sich aber auch nicht mit allen Elendsvariationen dieser Welt auseinandersetzen. Unweigerlich kommt man beim lesen auf den Gedanken: Es gibt sie also doch, die Hölle auf Erden. Mir selber ist beim U-Bahn-Fahren eine Zeit lang immer das Buch in Erinnerung gekommen.
Die Zahl der Außenseiter wie Obdachlose, Bettler, Straßenkinder usw. könnte man vielleicht als einen Indikator für den Zustand einer Gesellschaft heranziehen. Zumindest in den wohlhabenden Staaten. Geld und Personal für Sozialbetreuung ist ja meist zu wenig da. Milliarden werden eher zur Bankenrettung ausgegeben, weil Systemrelevant!
Ich persönlich glaube auch nicht das die nach eigenen Aussagen freiwilligen Bewohner der Tunnel, wirklich ganz freiwillig dieses Schicksal gewählt haben.

Hoffentlich kein neuer Exportschlager aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. 
Ein lesenswertes Buch, das ein wenig zum Nachdenken über soziale Gerechtigkeit zwingt.

 

Fotos:© Kuscheltier 2012

Kuscheltier, am 20.05.2012
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Bildquelle:
http://www.geschenke-der-hoffnung.org/ (Weihnachten im Schuhkarton)

Autor seit 12 Jahren
23 Seiten
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