Vom Ernst des Lebens - Zweites Kapitel (II)

   Der Page, ein flinker, drahtiger Bursche um die Zwanzig mit sonnengebleichtem Blondhaar, das durch den  Garçonschnitt sein ovales, leicht gebräuntes Gesicht betonte, bestand darauf, ihre Koffer zu tragen, obwohl er viel zu schmächtig wirkte, um die beiden schweren Taschen hochzuwuchten. Er schaffte es dennoch und erntete ein anerkennendes Zwinkern von Miles, das er mit einem Strahlen quittierte und dabei sehr weiße, furchteinflößend lange Zähne entblößte.

Im Lift übte er sich im Smalltalk; sein Englisch war beinahe perfekt.

"Sie sind zum ersten Mal hier? Die Stadt wird Ihnen gefallen. Alle Touristen mögen Paris, besonders zu dieser Jahreszeit. Ich komme aus Nîmes. Südfrankreich. Mein Onkel hat mich hergebracht. Zuerst wollte ich nicht, aber jetzt, nach zwei Jahren, bin ich froh, dass er so hartnäckig war. Man lernt viele interessante Leute kennen, und manche sind sehr spendabel. – Hier steigen ja ziemlich reiche Leute ab, Politiker, Sänger... Schauspieler auch. Ich habe ein Autogramm von Gene Kelly, wollen Sie es sehen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, nestelte er in seiner Uniformjacke herum und drückte es Rupert in die Hand.

"Toll", kommentierte Rupert lahm, indem er auf das von beneidenswerter Vitalität strotzende Porträt starrte. Der irische Name ließ ihn an ein Mitglied der Sinn Fein-Partei denken, wenngleich die Kostümierung irgendwie deplaziert anmutete. Vielleicht wollte er nicht erkannt werden.

Miles wölbte tadelnd die Brauen.

"Heben Sie es gut auf. In ein paar Jahren hat es sicher beachtlichen Wert."

Der Page nahm das vom vielen Herumzeigen zerfledderte Foto an sich und neigte geringschätzig den Kopf ob soviel Gleichgültigkeit, während seine vollen Lippen einen Schmollmund andeuteten. Anscheinend war es nicht das gewesen, was er hatte hören wollen. Die grünen Augen hinter schweren Lidern verdunkelten sich, und er wippte schweigend auf den Fußballen.

"Ein gutaussehender Mann und einmaliger Tänzer", versuchte Miles die Situation zu retten. "Er war phantastisch in Urlaub in Hollywood. Aber fast noch besser als d'Artagnan."

Die Miene des Pagen hellte sich auf. "Sie haben seine Filme gesehen?"

"So gut wie alle", bestätigte Miles. "Er ist unglaublich vielseitig. Gute Entertainer gibt es nicht viele, aber Gene Kelly gehört definitiv dazu."

"Ich habe auch ein Autogramm von Marlene Dietrich", sprudelte der Page hervor. "Aber das hängt zuhause in einem Rahmen. Wenn Sie möchten, bringe ich es morgen mit – wir sind da. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt, Messieurs." Er stellte die Koffer an der Tür ab und wies einladend in die weitläufig geschnittene Suite. Miles gab ihm Trinkgeld, soviel, dass Rupert an diesem Tag beinahe zum zweiten Mal ohnmächtig wurde. Das gesamte Vermögen der Mayhews oder zumindest Miles' Erbanteil musste offenbar für diesen sonderbaren Urlaub verprasst werden, ganz so, als hätte Miles eine absurde Wette mit sich selbst geschlossen.

Ein furchtbarer Gedanke schlich sich in sein Gehirn, den er fast nicht auszudenken wagte. Was, wenn dieser Urlaub Miles' endgültig letzter war? Womöglich hatte man eine unheilbare Krankheit diagnostiziert und seine Eltern ihm den letzten Wunsch gewährt, der darin bestand, eine andere Kultur kennenzulernen? Aber wäre Miles dann so unbeschwert? Doch es würde seine Geheimnistuerei um den Grund der Reise erklären. Aber auch seine Unbeschwertheit, die – soweit Rupert es beurteilen konnte – weder gekünstelt wirkte noch als Ablenkungsmanöver gedacht war? Eigentlich würde Rupert aufgesetzte Fröhlichkeit doch erkennen, oder? Gott, er wusste sehr wenig über den Menschen, den er für seinen Freund hielt. Aber was wusste er überhaupt über die Menschen?

Vom Wechselkurs des Francs war ihm ebenfalls nichts bekannt. Der Page bedankte sich mit dem Lüpfen seiner Kappe und stopfte die Scheine eilig in die Jackentasche, als hätte er Angst, Miles könnte seine Großzügigkeit bereuen.

"Wie heißen Sie?" Miles' Frage klang weder aufdringlich noch anzüglich. Irgendwie gelang es ihm, immer den richtigen Ton zu treffen. Der Page fühlte sich geschmeichelt, das war ihm anzusehen. Ein wenig verlegen spielte er mit den Knöpfen seines Kragens, ohne dass es ihm bewusst war, da er zu Miles aufsah, der ihn um einen Kopf überragte.

"Delaroche, Monsieur. Julien Delaroche."

"Victor", stellte sich Miles seinerseits vor und streckte ihm die Hand hin, die der Page umgehend ergriff und herzlich schüttelte. "Hätten Sie Lust, für uns nach Feierabend ein wenig den Fremdenführer zu spielen? Natürlich nur, wenn es Ihnen passt. Ich würde mich sehr freuen – genau wie mein Bruder Rupert. Wir lassen uns nicht lumpen, Julien."

Der Page nahm Rupert beiläufig aus den Augenwinkeln wahr, sah auf die Uhr und nickte dann. "D'accord. Ich habe in drei Stunden Dienstschluss. Ich warte hier auf Sie."

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