Der natürliche Mensch – natürlich gut

Rousseau war bekannt für seine schroffe Kritik an der Gesellschaftsstruktur der Neuzeit. Um seine Forderungen und Gedanken nachzuvollziehen, muss man im Blick behalten, dass er im Einfluss seiner Zeit stand. 1712 geboren, im Zeitalter der Aufklärung, die an sich schon für eine naturrechtlich orientierte Begründung der Normen steht. Durch seinen "Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes" (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1755) wird er international berühmt und ist einer der führenden Vertreter der Aufklärung. In diesem Werk bringt er seine Beobachtung der gesellschaftlichen Entfremdung von der Natürlichkeit zum Ausdruck. Rousseaus "natürlicher" Mensch sei nicht sündig, was ihn aber nicht automatisch gut werden lässt. Die Definition von gut liegt darin, dass der Mensch neutral, d.h. unter keinerlei moralischen Beziehungen besitzen und auch keine Pflichten nachgehen mussten. Die Moral gehört für Rousseau zur Gesellschaft und diese ist ein System, welches künstlich erschaffen worden ist und folglich nicht zum Naturzustand des Menschen gehört. Doch wie kann die Gesellschaft unnatürlich sein? Daraus ergeben sich philosophische Dispute, die bis heute anhalten.

Die Wunschgesellschaft Rousseaus

Das "Ganze" bildet den Grundgedanken Rousseaus Wunschzivilisation. Es gibt keine Individuen, der Gemeinewillen unterdrückt jegliche egoistische Bestreben. Rousseau fordert ein kollektives Eigentum in einer homogenen Gesellschaft. Dabei darf die Politik nicht als Eigentumsbeziehung verstanden werden. Gesellschaftliche Phänomene, wie die der politischen Systeme, sind nicht natürlich sondern künstlich erschaffen und entsprechen dem Naturzustandsbestreben Rousseaus nicht. Um diese Interessen zu verwirklichen, muss sie auch politisch zur Geltung kommen, ohne eine Elitenfunktion der Politiker, sondern durch eine gemeinschaftliche Integration aller. Dadurch ergeben sich neue Staatsgesetze wie der des Allgemeinwillens. Widersprüchlich dazu fordert Rousseau, dass Männer über den Frauen herrschen. Es soll nicht der einzige Widerspruch in Rousseaus Konzeption sein.

Ein weiterer großer Anteil in einer Gesellschaft, neben der Politik, hat die Religion, die vor allem zu Rousseaus Zeiten noch mehr Gewicht zukam. Nach Rousseau gibt es Religionen, die die Grundlagen der Gesellschaft angreifen. Diese gilt es zu vernichten und eine Zivilreligion zu begründen, die identitätsstiftend wirkend den Zusammenhalt der Gesellschaft unterstreicht. Die Zivilreligion für die angestrebte Gleichheit der Menschen und die politische Volkssouveränität sind Stützen des Gesellschaftskonzeptes und lassen den zeitgenössischen Menschen aufgrund der Idee von Vereinigung von Staatsbürger und Mensch aufhorchen.

Aber dadurch, dass Rousseau Religionen in gut und schlecht unterteilt, greift er indirekt die demokratische Lebensweise an. Die freie Praktizierung einer Religion oder Lebensweise wird bedroht.

Dekadenz der Kultur

Der vielleicht größte Streitpunkt in Rousseaus Denkweise ist die Meinung über die Kunst und der Wissenschaft. Beide werden in die Kategorie des unnatürlich Entstandenen eingeordnet und gefährden somit die soziale Gleichheit. Die Naturmenschen sind sich untereinander ähnlicher und schaffen so das vom ihm geforderte Ganze, dass keine Individuen hervorbringt, die sich künstlerisch zum Ausdruck bringen. Es entsteht ein Bild der Einheitlichkeit des Menschen; ein Mensch, der sich nicht durch Kunst und Fortschritt beeinflussen lässt. Doch gehört es nicht auch zur Natur des Menschen sich zu entwickeln, Neigungen und Interessen zu zeigen? Vor allem Wissenschaften zeigen die geistigen Fähigkeiten des Menschen, etwas, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Ja, der Mensch schafft etwas unnatürliches, was nicht natürlich gegeben war, aber was sich aus der Natürlichkeit heraus entwickelte. Ein interessante Behauptung Rousseaus aus einem seiner Werke regt zu weiteren Diskussionen an, nämlich, dass der vergesellschaftete Mensch außerhalb seines Selbst steht und nur allein in der Meinung anderer lebt.

Infolge der künstlichen Schaffung des Systems durch eine herrschende Instanz, welche grenzübergreifend auf unser Leben einwirkt, stellt sich tatsächlich die Frage, wie künstlich und authentisch der Mensch als solcher in dieser Gesellschaft ist und wie er sich ohne diese äußeren Eingebungen präsentiert. In wie weit sind die gefassten Gedanken die eigenen, frei von Beeinflussungen der Außenwelt. Sind wir selbst noch in der Lage eigene Eindrücke so zu formulieren, dass sie als was Eigenes, Neues aufgefasst werden? Gerade heute scheint die Frage aktueller denn je zu sein. Medieneinflüsse und Propaganda begleiten uns tagtäglich. Das Hauptunterhaltungsmedium zu Rousseaus Zeit war das Theater, welches er strikt verwirft. Es beeinflusst den Menschen zu sehr mit seiner künstlich erschaffenen Ästhetik. Der Mensch solle die Kunst lieber selbst leben, indem er sie in den Alltag integriert. Rousseau war somit ein Vorreiter der Avantgarden im 20. Jahrhundert: Die Kunst der Lebensgestaltung.

Das Streben nach Glück

Der letzte Punkt, der aufgeführt werden soll, ist die des Luxus und des Glück. Begriffe, die sich in unserem Verständnis nicht ausschließen. Glück ist nach Rousseau leicht zu haben, alles was es dazu braucht ist, im Einklang mit sich selbst und der Natur zu sein. Dazu gehört auch das nun mehrmals erwähnte "Ganze", das mit der Natur eins wird. Wie zuvor wird die Gesellschaft kritisiert, in diesem Falle als Glücksverhinderer. Die Gesellschaft bringt Ungleichheit der Menschen hervor; das sehe man vor allem in dem Luxus, den viele Menschen genießen und von den anderen Gesellschaftsschichten nur träumen können. Laut Rousseau ist der Luxus überflüssig, da es der natürlichen Notwendigkeit übersteigt. Der neu erdachte Gesellschaftsvertrag duldet keinen Luxus, der die Reichen von den Armen trennt. Ganz nach dem Prinzip: Ohne Luxus gäbe es auch keine Armut. Auch hier kann der Wahrheitsgehalt der These in Frage gestellt werden. Es liegt dem biblischen Prinzip "ohne Böse, kein Gut" zugrunde und lässt sich auf weitere, alltägliche Kontraste beziehen, auf die sich unser Leben stützt.

Ein ewiger Disput…

Obwohl Rousseau seit 1778 nicht mehr unter den Lebenden weilt, schafft er es noch immer seine Leser herauszufordern. Die Gesellschaft, für die Rousseau plädiert, soll sich durch die Egalität der Menschen zum Ausdruck bringen. Der Naturmensch kennt keine politischen Systeme, keine Sprachen, keine Technik und somit auch keinen Fortschritt. Damit aber unterdrückt er seine wahre Natur, nämlich die des Wissendurstes. Rousseau scheint die wahre Natur des Menschen zu kennen, beachtet aber nicht seine naturgegebenen Talente, die zwar die Schaffung des künstlichen vorantreibt, diese aber nicht verwirft. Es liegt im Plan der Natur etwas zu schaffen, was dem natürlichen Sein widerspricht. Nur deswegen ist der Mensch dort, wo er heute ist. Die Zurückbesinnung sollte auf andere Weise geschehen, aber alle Menschen gleich zu machen, den Luxus zu verneinen, ist für unsere Begriffe eine fragwürdige Richtung.

Autor seit 8 Jahren
17 Seiten
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