Muttersprachler brauchen keine Grammatik

Zunächst mal: In der eigenen Muttersprache können die meisten Menschen völlig korrekt sprechen, ohne dass dafür die geringsten Grammatikkenntnisse nötig wären. Kleinkinder eignen sich die Sprache ihrer Umgebung durch Nachahmen und Ausprobieren ohne jede Anstrengung an. Das Gehirn verinnerlicht die Strukturen einer Sprache so vollkommen, dass man später dann einfach weiß, was richtig und falsch ist, ohne den geringsten Zweifel.

Ist Deutschunterricht in der Schule überflüssig?

Aber wozu gibt es dann eigentlich das Fach Deutsch in der Schule? Zumindest den Teil, der sich mit Grammatik befasst?

Das hat mehrere Gründe. Als Kind lernt man natürlich nur die Sprache, mit der man ständig Kontakt hat. Also die Sprache, die Eltern, Freunde und Erzieherinnen im Kindergarten sprechen. Wohnt man in einer ländlichen Gegend, lernt man auf diese Weise vielleicht nur den örtlichen Dialekt, aber kein Hochdeutsch. Doch auch innerhalb der deutschen Standardsprache gibt es große Unterschiede, je nachdem, in welcher sozialen Schicht jemand aufwächst. In einem Elternhaus, in dem viel gelesen und diskutiert wird, entwickeln auch die Kinder schon früh ein hohes Sprachniveau. In den bildungsfernen Schichten erreichen Kinder dagegen selten die volle Kompetenz in der Muttersprache.

Kindergarten und Schule sollen diese herkunftsbedingten Unterschiede ausgleichen. Dazu ist die theoretische Beschäftigung mit der Sprache nötig. Indem man die Regeln, nach denen eine Sprache funktioniert – denn genau das ist Grammatik –, lernt und anwendet, kann man die Lücken, die der natürliche Spracherwerb gelassen hat, mit der Zeit schließen und die Sprachkompetenz erhöhen. So wird man später auch in der Lage sein, eine Abschlussarbeit für die Berufsschule oder die Uni zu schreiben, selbst wenn die Eltern nicht dazu in der Lage wären.

Sprache ohne Grammatik

Was passieren würde, wenn es keine Grammatik gäbe, lässt sich leicht feststellen, wenn man einmal Deutsch als Fremdsprache betrachtet. Beginnen wir mit einem Bereich, über den wohl jeder schon einmal gestolpert ist: der automatischen Übersetzung. Auch wenn einige Übersetzungsprogramme besser sein mögen als andere, so wird man doch selten ein Ergebnis in wirklich einwandfreiem Deutsch erhalten. Schlechte Programme können einen Text bis zur Unverständlichkeit entstellen. Das liegt nicht nur an den zahlreichen falschen Übersetzungen einzelner Wörter, sondern vor allem daran, dass die grammatischen Regeln der deutschen Sprache einfach ignoriert werden.

Verständigung ohne Grammatik?

Ähnliches, wenn auch nicht ganz so krass, erlebt man, wenn man versucht, mit jemandem in einer unbekannten Sprache zu kommunizieren. Einige Vokabeln, die Gegenstände oder einfache Tätigkeiten bezeichnen, lassen sich durch Zeigen und Pantomime noch recht einfach vermitteln. Aber mit einer Reihe von Wörtern allein lassen sich noch keine eindeutigen Aussagen bilden. "Ich gehen Bahnhof" mag noch verständlich sein, wobei das Wort "ich" schon ein gewisses Abstraktionsvermögen voraussetzt. Aber schon Sätze wie "Wo ist der Bahnhof?", "Wann fährt der Zug nach München?", "Wie komme ich zum Bahnhof?", "Wie oft muss ich umsteigen?" enthalten eine Vielzahl von grammatischen Regeln in der praktischen Anwendung.

Um zu unserem Ausgangssatz zurückzukommen:

"Ich gehen Bahnhof" kann Verschiedenes bedeuten:

  • Ich gehe jetzt zum Bahnhof.
  • Ich werde morgen zum Bahnhof gehen.
  • Ich bin gestern zum Bahnhof gegangen.
  • Wie gehe ich am besten zum Bahnhof?

Es kann sehr mühsam und anstrengend sein, allein aus der Situation und mithilfe der Gestik des Gesprächspartners zu erraten, was dieser sagen will, wenn er zwar einzelne Wörter, aber nicht die Grammatik einer Sprache beherrscht.

Es gibt einige typische grammatische Fehler, die man fast immer bei Ausländern antrifft, auch wenn sie ansonsten gut Deutsch sprechen. Dazu gehört das Ignorieren der Satzklammer bei trennbaren Verben und in Nebensätzen. Das Verb (Tätigkeitswort), das im Allgemeinen an zweiter Stelle im Satz, häufig nach dem Subjekt, steht, wandert in deutschen Nebensätzen ans Ende.

Aus

Ich (1) fahre (2) morgen nach München.

wird also im Nebensatz

Ich freue mich, weil ich morgen nach München fahre.

Gut informierte Ausländer reißen gerne Witze über diese Eigenart der deutschen Sprache und behaupten zum Beispiel, die Deutschen seien im Gespräch so geduldig und höflich, weil sie ja immer erst das Ende des Satzes abwarten müssten, um zu erfahren, was der Gesprächspartner sagen will. Da viele andere Sprachen eine derartige Satzklammer nicht kennen, hört man von Ausländern oft:

Ich freue mich, weil ich fahre (an dieser Stelle falsch!) morgen nach München.

Die Sprache des Landes, in dem man lebt, wirklich korrekt zu beherrschen, ist eins der wichtigsten, vielleicht sogar das allerwichtigste Mittel der Integration in eine fremde Kultur. Es gibt Beispiele von Menschen, die ohne Unterricht nur durch Nachahmung ein sehr hohes Niveau in einer fremden Sprache erreicht haben. Einige Besonderheiten wie etwa die genannte Satzklammer wird man aber sicher schneller lernen, wenn man die entsprechende grammatische Regel kennt.

Federspiel, am 14.03.2015
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