Warum die Prävalenz für Autismus weltweit ansteigt

Noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Besonderheiten, die dem autistischen Formenkreis angehören, sehr häufig nicht als solche wahrgenommen und entsprechend selten korrekt diagnostiziert. Die betroffenen Kinder galten entweder als schizophren oder als hyperaktiv. Nicht selten wurden sie mehr oder weniger diffus als schwer erziehbar oder schlicht als behindert eingestuft. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist das Phänomen Autismus bei Ärzten und Psychologen zunehmend in den Fokus gerückt. Heute gibt es bereits eine ganze Anzahl von Ursachen, weshalb mehr Kinder und Jugendliche diagnostiziert werden als früher:

  • Kinder besuchen heute weit häufiger einen Kindergarten, wo ihre Besonderheiten auffallen
  • die Einschulung erfolgt oft früher
  • Eltern beobachten heute aufmerksamer
  • die Präzedenzfälle wecken die Aufmerksamkeit
  • das Diagnoseverfahren wird ständig verfeinert und verbessert
  • die Definition von Autismus ist verbreitert worden (Autismusspektrum)
  • Wissen über Autismus breitet sich in der Bevölkerung aus
  • bestimmte Fälle von ADHS und kindlicher Schizophrenie werden heute dem Autismus zugerechnet
  • die Autismusforschung wird nun auch in Deutschland mit mehr Ernst betrieben

 Laut Center for Disease Control verzeichneten allein die USA zwischen 2002 und 2006 einen Anstieg der Fälle von Autismus um 57 Prozent. Die Autismus-Forschungskooperation AFK [s. Quellenangabe 3] in Berlin, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der Freien Universität Berlin und von autistischen Menschen, geht nach den neusten Studien davon aus, dass einer von zweihundert Menschen jeden Alters von einer Form des Autismus betroffen ist. Nach einer Studie der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/Reutlingen (vorgestellt im Januar 2010) gehören etwa fünfzehn von zehntausend deutschen Schülern dem Autismusspektrum an. Statistisch käme demnach auf eine Schule mit rund siebenhundert Schülern ein autistisches Kind. Dies sei mehr als bisher angenommen, so die Autoren der Studie. Nach deren vorsichtiger Einschätzung entfallen allein auf den Südwesten der Bundesrepublik mindestens zweitausend betroffene Schüler.

 

Autistische Schüler sind nicht zwangsläufig behindert

Allen autistischen Formen gemeinsam sind vielfältige Symptome mit individueller Ausprägung. Einige davon können sein:

  • Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens (u.a. soziale Phobie)
  • Schwierigkeiten bei der Kommunikation
  • Emotionen anderer werden falsch oder nicht verstanden
  • Probleme beim Verstehen von Metaphern und Ironie
  • Probleme beim Einsetzen beziehungsweise beim Verstehen von Mimik und Gestik
  • stereotype oder ritualisierende Verhaltensweisen

Die Bandbreite reicht von leichten Verhaltensproblemen bis zur geistigen Behinderung (etwa bei niedrigfunktionalem Autismus (LFA). Welche der als autistisch diagnostizierten Kinder tatsächlich geistig behindert sind oder nicht, ist zum Zeitpunkt der Diagnose schwer zu sagen. Zwanzig Prozent aller betroffenen Schüler leiden allenfalls unter einer Lernbehinderung. Während jedoch Schülern ohne Seh- und/oder Hörvermögen in den Regelschulen sonderpädagogische Hilfestellungen angeboten werden, müssen die meisten autistischen Schulkinder ohne spezielle Unterstützung auskommen. Der neuen Studie zufolge besuchen deshalb rund acht von zehn Kindern mit frühkindlichem Autismus eine Sonderschule für geistig Behinderte. Dennoch wären manche dieser Schüler bei geeigneter Unterstützung in der Lage, den Regelschulabschluss oder gar das Abitur zu absolvieren. Schüler mit der Diagnose Asperger-Syndrom oder mit hochfunktionellem Autismus (HFA) sind ihren Mitschülerinnen und Mitschülern intellektuell ebenbürtig und können mitunter sogar eine Hochbegabung aufweisen.

 

Förderung autistischer Kinder im Vorschulalter

Eine sehr frühe Förderung im letzten vorschulischen Jahr wird - zumindest in Bayern - durch die Mitarbeiter der "mobilen sonderpädagogischen Hilfen" (msH) und der Lehrer des "Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes" (MSD-Autismus) angeboten [s. Quellenangabe 1 und 2]. Sowohl Kinder als auch Eltern können so bereits in den Kindergärten und -krippen auf den Schulbeginn vorbereitet werden. Der MSD-Autismus leistet hierbei unter anderem:

  • Schullaufbahnberatung
  • Herstellung von Kontakten zu Schulen
  • vorbereitende Gespräche mit Lehrern
  • Vermittlung außerschulischer Therapie- und Fördermöglichkeiten
  • Fortbildungs- und Informationsangebote für Eltern, Betreuer und Lehrer

 

Förder- und Ergänzungsmaßnahmen für autistische Kinder im Schulalter

Die wissenschaftlich am besten abgesicherte Hilfe ist die Verhaltenstherapie. Sie dient dem Abbau störender oder unangemessener Verhaltensweisen und dem Aufbau sozialer und kommunikativer Fähigkeiten. Dabei wird das gesamte soziale Umfeld (Eltern, Familie, Lehrer) miteinbezogen. Diese Therapie verfolgt folgende Ziele:

  • Aufbau sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen mit dem Ziel der Gruppenfähigkeit
  • Förderung der Selbstständigkeit und alltagsrelevanter Fähigkeiten
  • Gute Sprachentwicklung
  • Normales Spiel-, Lern- und Arbeitsverhalten
  • Entwicklung von Handlungsstrategien für Konfliktsituationen
  • Schulabschluss und Berufsausbildung
  • Vermeidung der Unterbringung in einem Kinderheim

Ergänzende Maßnahmen wie Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Musiktherapie, Kunsttherapie, Massagetherapie oder Reittherapie können sich positiv auf Stimmung, Ausgeglichenheit und Kontaktfähigkeit der Kinder auswirken. Verfahren wie die Festhaltetherapie oder die von der australischen Pädagogin Rosemary Crossley entwickelte Methode der gestützten Kommunikation werden hingegen kontrovers diskutiert. Ihre Wirksamkeit ist nicht unumstritten und wird zunehmend kritisch hinterfragt. Mangels Alternativen scheinen jedoch nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer in der gestützten Kommunikation ein probates Mittel zur Kommunikation mit autistischen Kindern zu sehen.

Gezielte Frühförderung bestimmt maßgeblich den Erfolg weiterer Entwicklungsmöglichkeiten für die betroffenen Schüler. Werden sie unterlassen, leiden die autistischen Kinder unter

  • Reizüberflutung durch sensorische Überempfindlichkeit oder soziale Interaktionen
  • Überforderung in der Situation
  • Reaktionsunfähigkeit
  • Sprech- und Denkblockaden
  • unkontrollierte Handlungen aus dem Affekt heraus
  • Überempfindlichkeit auf jede Kleinigkeit
  • nervöses Flattern mit den Händen, Unruhe
  • Zwangsgedanken bzw. im Kreis denken

 

Wichtig für den Erfolg der Förderung: eine frühe Diagnose

Voraussetzung für eine erfolgreiche, gezielte Förderung ist die möglichst frühe Diagnose einer autistischen Veranlagung durch einen ausgewiesenen Spezialisten oder eine Autismus-Ambulanz. Unterbleibt sie, können sich zu den oben genannten Problemen weitere zusätzliche Störungen ausbilden:

  • Depressionen
  • Zwangsstörungen
  • Essstörungen
  • Schlafstörungen
  • Psychosen
  • Phobien
  • posttraumatische Belastungsstörungen

 

Jungendämter reagieren häufig nur unter Zwang

Um den Schulkindern im Autismus-Spektrum bei der Reizverarbeitung zu helfen, braucht es viel Zeit. Nicht nur den Kindern, auch den Betreuern wird einiges an Geduld und Energie abverlangt. Alle Beteiligten werden vor eine harte Bewährungsprobe gestellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Jugend- und Sozialämter eine spezifische Schulbegleitung für autistische Schüler häufig noch ablehnen. Obwohl ein Rechtsanspruch besteht, bleibt den Eltern oftmals nur der Weg, ihn gerichtlich durchzusetzen.Präzedenzfälle [s. Quellenangabe 5 und 6] geben durchaus Anlass zu Optimismus.

 

Bitte beachten Sie, dass dieser Artikel generell fachlichen Rat - zum Beispiel durch einen Arzt oder einen Rechtsanwalt - nicht ersetzen kann.

 

Quellen:

  1. http://www.msd-autismus.de/
  2. http://www.intakt.info/bietet-informationen-und-kontakte-fuer-eltern-mit-behindertem-kind/
  3. http://www.autismus-forschungs-kooperation.de/
  4. http://www.ph-ludwigsburg.de/
  5. http://www.reha-recht.de/fileadmin/download/foren/a/2012/A6-2012_Schulbegleitung_Schulbefoerderung_PB.pdf
  6. http://www.hoffmann-gress.de/skripten/InfoBrief_Sozialrecht_Juli_2012.pdf
  7. Theunissen, Kulig, Leuchte, Paetz (Hrsg.): Handlexikon Autismus-Spektrum. Verlag W. Kohlhammer, 2015
  8. Tony Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom. Alle Fragen-alle Antworten. Trias, 2008
  9. Bildnachweis: © Stephanie Hofschlaeger/Pixelio.de
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