Der Ablauf einer Nahtoderfahrung

Zunächst stellt Long im neuen Buch noch einmal klar, was eine Nahtoderfahrung ist und was dabei geschieht. Und zwar handelt es sich dabei um eine Erfahrung von höchster Klarheit, die der Betroffene paradoxerweise dann macht, wenn seine körperlichen Systeme durch Unfall oder Krankheit so stark geschädigt sind, dass er entweder nicht mehr bei Bewusstsein oder sogar klinisch tot ist, d.h., ohne Herzschlag und Atmung. Ferner kann es zu einer solchen Erfahrung kommen, wenn eine Person unter Vollnarkose steht.

Ferner folgen Nahtoderfahrungen so gut wie immer einem gleichbleibenden Muster, stimmen also unabhängig vom Alter, der kulturellen Prägung, der Erziehung und der geografischen Herkunft der Betroffenen weitgehend übereinstimmen. Und zwar gibt es zwölf Elemente, die bei Nahtoderfahrungen normalerweise in gleichbleibender Reihenfolge auftreten, nämlich 1. Außerkörperliche Erfahrung, 2. Schärfere Sinne, 3. Intensive und im Allgemeinen positive Gefühle und Empfindungen, 4. Hineingehen in oder Hindurchgehen durch einen Tunnel, 5. Begegnung mit einem mystischen oder strahlenden Licht, 6. Begegnung mit verstorbenen Verwandten und Freunden oder mystischen Wesen, 7. Das Gefühl, das Raum und Zeit sich verändert haben, 8. Lebensrückschau, 9. Eintritt in unirdische ("himmlische") Welten, 10. Begegnung mit oder Erlernen von besonderem Wissen, 11. Auftreffen auf eine Grenze oder Barriere, 12. Freiwillige oder unfreiwillige Rückkehr in den Körper.

Die Gottesstudie

Mehr als zweihundert Nahtoderfahrene hatten auf der Website der NDERF aber auch eine direkte Begegnung mit Gott bzw. die Wahrnehmung einer göttlichen Präsenz geschildert, und diese Schilderungen hatten Long so fasziniert, dass er ein völlig neues Forschungsprojekt gestartet hat, dem er den Namen "Die Gottesstudie" gab. Diese sollte sich, wie Long betont, zur mit Abstand größten jemals durchgeführten wissenschaftlichen Studie zum Thema "Gott und Nahtoderfahrung" entwickeln. Das heißt: Keine Studie zuvor hatte Nahtoderfahrene direkt nach Begegnungen mit dem Göttlichen während ihres Erlebnisses gefragt.

Für Long war deshalb Ziel der Gottesstudie, jenes Beweismaterial zu sichten, das Nahtodbetroffene, die bei diesem Erlebnis eine Begegnung mit Gott hatten, durch direkte Erfahrung erlangt hatten. Das heißt: Die Gottesstudie sollte exakt widerspiegeln, was tatsächlich geschieht, wenn Nahtoderfahrene eine Begegnung mit dem Göttlichen haben. Die Erkenntnisse der Gottesstudie sind im neuen Buch dokumentiert. Long verfolgt also mit dem neuen Buch explizit das Ziel, eine wissenschaftlich exakte Darstellung der jenseitigen Welt auf der Grundlage von Nahtoderfahrungen vorzulegen.

Die Antwort auf eine grundlegende Frage

Für die Gottesstudie wurden alle Nahtoderfahrungen herangezogen, die zwischen dem 11. November 2011 und dem 7. November 2014 über das entsprechende Formular auf der NDERF-Website eingestellt worden waren. Das waren 420 Berichte über Nahtoderfahrungen auf der Basis der jüngsten Version des NDERF-Fragebogens, die die strengen Kriterien für eine echte Nahtoderfahrung erfüllten, wie sie von dem Neurowissenschaftler und Nahtodforscher Bruce Greyson definiert worden sind.

Alle diese Nahtoderfahrenen wurden gefragt, ob sie während ihrer Erfahrung irgendwelchen spezifischen Erkenntnisse oder Einsichten erlangt hätten, dass Gott oder ein höchstes Wesen existiert bzw. nicht existiert. Und 45,5 Prozent der Nahtoderfahrenen haben diese Frage mit "Ja" beantwortet. Für Long ist dieses Ergebnis erstaunlich, weil es zeigt, dass die Wahrnehmung der Existenz Gottes häufiger auftritt als alle anderen typischen Elemente von Nahtoderfahrungen.

Liebe und Licht

Von Nahtoderfahrenen, die von einer Begegnung mit dem Göttlichen berichten, wird als stärkste Empfindung, die sie während ihrer Erfahrung hatten, die Liebe genannt. Gott wird als ein Wesen beschrieben, dessen Essenz die Liebe ist. Die Erfahrung, von Gott geliebt zu werden, spielt also bei Nahtoderfahrungen eine zentrale Rolle. Doch diese Liebe unterscheidet sich erheblich von dem, was wir im Alltag unter Liebe verstehen. Denn den Berichten der Nahtoderfahrenen zufolge ist Gottes Liebe unendlich, universell, umfasst jeden Menschen; sie übersteigt - so ein Untersuchungsteilnehmer - jedes menschliche Fassungsvermögen.

Man konnte auch sagen: Viele Nahtoderfahrene haben bei ihrer Begegnung mit einem göttlichen Wesen eine überwältigende Liebe und Akzeptanz erlebt und damit eine Erfahrung gemacht, die, wie viele Aussagen Betroffener zeigen, sich kaum in Worte fassen lässt. In diesem Zusammenhang wird Gott auch gleichgesetzt mit einem überirdischen Licht, einem Licht, das alles durchdringt, so dass auch die Menschen Teile dieses Lichts sind, was ein anderer Untersuchungsteilnehmer mit den Worten umschrieben hat: "Wir sind alle eins mit Gott im Licht".

Die Liebe zu anderen Menschen als Lebenssinn

Eine andere wichtige Dimension der Begegnung mit einem göttlichen Wesen, über die Nahtoderfahrene häufig berichten, ist die "Aufklärung über den Sinn des Lebens auf der Erde". Entsprechend wurden in der jüngsten Version des NDRF-Fragebogens die teilnehmenden Nahtoderfahrenen gefragt, ob sie während Ihrer Erfahrung irgendwelche spezifischen Einsichten im Hinblick auf den Sinn des Lebens erlangt hätten. 36,4 Prozent der Teilnehmenden haben diese Frage bejaht, und bei ihren ausführlicheren Beschreibungen findet man häufig die Erkenntnis, dass das irdische Leben tatsächlich sinnvoll und bedeutsam ist, wobei die Liebe wiederum von fundamentaler Bedeutung ist. Das heißt: Den Nahtoderfahrenen ist die Erkenntnis vermittelt worden, dass der Aufbau liebevoller Beziehungen zu ihren Mitmenschen Sinn und Zweck ihres irdischen Lebens ist.

Entscheidungen, Einsichten und Urteile

Die Gottesstudie zeigt auch, dass viele Nahtoderfahrene vor die Wahl gestellt wurden, ob sie in ihre irdische Existenz zurückkehren oder im Himmel bleiben wollen. Manche Nahtoderfahrene werden von Gott oder einem anderen himmlischen Wesen aber auch explizit ins Leben zurückgeschickt, wobei dies in der Regel damit begründet wird, dass sie auf der Erde noch eine Aufgabe zu erfüllen hätten. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Urteile, die Gott über das bisherige Leben der Betroffenen fällt, niemals gleichbedeutend sind mit einer Verurteilung. Ferner werden Nahtoderfahrenen, die Gott begegnet sind, bestimmte Einsichten über sich selbst oder über die menschliche Existenz auf der Erde generell, aber auch besonderes Wissen (in manchen Fällen sogar die Gesamtheit des Wissens) offenbart. Häufig wird dadurch ihr Leben vollkommen verändert, auch wenn sie sich nach ihrer Rückkehr nur noch bruchstückhaft daran erinnern können.

Der Himmel als wunderschöner Ort

Viele Nahtoderfahrene beschreiben detailliert das "Himmelreich". Und zwar wird der Himmel im Wesentlichen erlebt als 1.überwältigend schöner Ort, 2. als Ort, an dem die Betroffenen ihre verstorbenen Lieben, irgendwelche geistigen Wesen oder wirklich Gott treffen, 3. als Grenze zwischen Leben und Tod. Das bedeutet auch, dass die Betroffenen zwar bereits einen Blick auf den Himmel werfen, aber diesen noch nicht betreten dürfen, weil sie auf der Erde noch etwas zu erledigen haben. Dabei erscheinen die himmlischen Reiche entweder als Landschaften mit einer intensiven Farbigkeit, wie man sie auf der Erde nicht kennt, oder sie nehmen die Gestalt von märchenhaft schönen Städten an, die in der Sonne funkeln und glänzen wie Diamanten oder Kristalle. In dieser wunderschönen Umgebung wird häufig von den Betroffenen auch eine überirdisch schöne Musik gehört, wobei ihnen diese himmlische Musik oft ein Leben lang in Erinnerung bleibt.

Höllenerlebnisse

Schockierend sind für Long bedrohliche, im Extremfall "höllische" Nahtoderfahrungen. Diese sind jedoch, wie er betont, sehr selten, und sie sind meistens nicht nur erschreckend, sondern hier mischen sich bedrohliche und tröstliche Anteile. Dabei steht die beängstigende Erfahrung am Anfang und wird dann durch eine positive Erfahrung abgelöst, die zudem wesentlich länger dauert. Für Long handelt es sich hier um Nahtoderfahrungen, die am schnellsten und umfassendsten zu einer Wandlung des Betroffenen führen, da sie ihm gleichzeitig das schlimmste Übel und das höchste Gut vor Augen führen. Er glaubt deshalb, dass vor allem solche Personen während einer Nahtoderfahrung "in der Hölle landen", die aufgrund einer Menge negativer Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen haben, Vieles wiedergutzumachen haben. Dabei räumt er ein, dass diese Annahme sehr spekulativ ist.

Gott und die Religionen

Abschließend berichtet Long über seine Erkenntnisse bezüglich der Unterschiede zwischen dem Bild von Gott, das Nahtoderfahrene zeichnen, und der Vorstellung von Gott in den traditionellen Religionen. So werde Gott von den Nahtoderfahrenen zwar als "machtvoll" erlebt, aber nie als zerstörender oder strafender Gott, wie ihn die traditionellen Religionen darstellen. Ferner betonen viele Nahtoderfahrene, die Gott begegnet sind, dass unser irdisches Vokabular Gott nicht einmal annähernd zu beschreiben vermag.

Untersuchungen, bei denen nach der religiösen Selbsteinschätzung der Nahtoderfahrenen gefragt wurde, haben Long zufolge ergeben, dass es nicht von den religiösen Überzeugungen bzw. der Mitgliedschaft der Betroffenen in einer religiösen Gruppierung abhängt, ob es während einer Nahtoderfahrung zu einer Begegnung mit Gott oder einem Erleben des "Himmelreichs" kommt oder nicht. Andererseits haben diese Untersuchungen gezeigt, dass von dem starken Wandel, den viele Nahtoderfahrene durchlebten, die eine Gottesbegegnung hatten, auch ihre religiösen Überzeugungen betroffen waren. Dabei ist für Long bemerkenswert, dass eine Nahtoderfahrung, bei der es zu einer Begegnung mit Gott kam, offensichtlich sehr viele Betroffene dazu bewogen hat, die Bedeutung ihres religiösen/spirituellen Lebens wesentlich höher einzuschätzen. Er führt dies darauf zurück, dass Nahtoderfahrene, die eine Gottesbegegnung erlebt haben, dieses Erlebnis für real halten.

Bewertung

Nach Ansicht von Jeffrey Long sind die Ergebnisse der von ihm durchgeführten Gottesstudie überwältigende Belege für die Existenz Gottes und des Himmels. Skeptiker werden dagegen einwenden, dass die Berichte von Nahtoderfahrenen über ihre angebliche Begegnung mit Gott oder ihre Beschreibungen des Himmels Halluzinationen, Träume oder Projektionen von Wunschvorstellungen sind. Meiner Meinung nach sollte aber zu bedenken geben, dass Menschen, die unterschiedlichen Glaubensrichtungen angehören oder sogar Atheisten sind, berichtet haben, dass sie während ihrer Nahtoderfahrung einem göttlichen Wesen begegnet sind - das ihnen wie die Verkörperung einer grenzenlosen Liebe erschienen ist - und dass Nahtoderfahrene, die unterschiedlichen Religionen angehören, den Himmel in gleicher Weise erlebt und beschrieben haben. Auffällig ist für mich auch, dass die Nahtoderfahrung bei vielen Betroffenen zu einer starken Zunahme des Glaubens an die Existenz Gottes geführt hat.

Ferner sollte nachdenklich machen, dass Nahtoderfahrene nach ihrem Erlebnis oft "ihr ganzes Leben umkrempeln" und/oder sich auch persönlich stark verändern. Ein solch fundamentaler Wandel könnte - so meine Vermutung - explizit auf eine Begegnung mit Gott während der Nahtoderfahrung zurückzuführen sein. Das heißt: Die Begegnung mit Gott könnte der Höhepunkt und eigentliche Zweck von Nahtoderfahrungen sein, und die anderen typischen Elemente von Nahtoderfahrungen könnten der Vorbereitung auf diese Begegnung dienen.

Aber um beurteilen zu können, was es mit den Jenseitserlebnissen von Nahtoderfahrenen wirklich auf sich hat, ist sicherlich noch weitere intensive Forschung notwendig. Die Gottesstudie soll dazu, wie Long betont, den Anstoß geben. Und es ist sicherlich das Verdienst dieser Studie, das ernst zu nehmen, was Menschen über ihre Begegnung mit einem göttlichen Wesen und ihr Erleben des Himmels während ihrer Nahtoderfahrung berichtet haben. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Lektüre dieser Berichte für diejenigen Menschen sehr tröstlich ist, die Angst vor dem Tod haben oder geliebte Angehörige verloren haben.

 

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