Tatsächlich erinnert die damalige Situation verblüffend an gegenwärtige Diskussionen und Befürchtungen rund um den neuen Industriegiganten China. Innerhalb weniger Jahrzehnte stieg das Reich der Mitte von einem rückständigen Agrarstaat inklusive Hungersnöten zur Wirtschaftssupermacht auf. Produzierte China anfangs billigste und qualitativ meist minderwertige Massenprodukte, so wurde die Qualitätsschraube allmählich angezogen und "Made in China" ist nicht mehr synonym mit billiger Wegwerfware.

Ein Weg, den auch das noch junge Deutschland des 19. Jahrhunderts ging. Die Arbeitslöhne waren niedrig, umso höher jedoch war die Produktivität, ganz dem berühmten "deutschen Fleiß" geschuldet. Freilich: In Punkto Qualität vermochte Deutschland mit der damals führenden Industrienation nicht Schritt zu halten – noch nicht! Kein Wunder, hatte doch die industrielle Revolution im Jahrhundert davor in England ihren Anfang genommen, was dem Königreich einen ungeheuren technologischen Vorsprung verschaffte, von dem es immer noch zehrte.

Vorsicht: "Made in Germany"!

Langsam, aber sicher schlossen das junge Deutschland und Englands Erzfeind Frankreich trotzdem auf, wobei sich Deutschland eines besonders fiesen Tricks bediente: Industriespionage! Überliefert ist etwa die Studienreise eines netten deutschen Herrn durch englische Stahlfabriken. Stolz und treuherzig präsentierten ihm die Unternehmer ihre neuesten Entwicklungen, nicht ahnend, um wen es sich bei ihrem Besucher handelte, nämlich um einen gewissen Alfred Krupp, der das britische Knowhow zum Nulltarif in seinen Fabriken einbringen konnte. Wer dies für den Gipfel der Dreistigkeit hält, irrt. Buchstäblich auf die Messerspitze trieben es Solinger Messerhersteller, die ihre Waren als "Sheffield made" anpriesen.

Damit hatten die deutschen Kopisten das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht, zumal selbst die britischen Kolonien von den frechen Plagiaten überschwemmt werden. Auf Druck der heimischen Industrie erließ das britische Parlament den "Merchandise Marks Act 1887". Hinter diesem sperrigen Titel steckte die Vorschrift, dass auf jeder Importware das Herkunftsland auszuweisen sei. Fortan mussten deutsche Waren das Siegel "Made in Germany" führen. In den weiteren Jahren übernahmen die meisten anderen europäischen diese Vorschrift zur Herkunftsbezeichnung. Viele englische Unternehmer atmeten erleichtert auf in der Annahme, dass Briten die "minderwertigen" Waren "Made in Germany" meiden würden. Dummerweise erwies sich einmal mehr: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht!

Deutsche Waren erobern britische Kolonien

Mit dem teils berechtigten Vorwurf, deutsche Waren wären qualitativ minderwertig, hatten die Briten einen empfindlichen Nerv getroffen. Weniger der damals noch geringe Nationalstolz, als vielmehr die Furcht vor wirtschaftlichem Niedergang trieb deutsche Unternehmen zu strengen Qualitätskontrollen. Binnen weniger Jahre avancierte die abschreckende Kennzeichnung "Made in Germany" zum Qualitätssiegel. Obwohl die Waren durch das geringere Lohnniveau in Deutschland immer noch günstiger angeboten werden konnten, hatten sie nicht nur qualitativ zur britischen Konkurrenz aufgeschlossen, sondern vermochten sie mitunter sogar zu überflügeln.

Britische Produkte verloren überall Marktanteile, sogar in den eigenen Kolonien, wie 1897 der Kolonialminister (übrigens keine typisch britische Schrulle: Die meisten Kolonialmächte betrieben ein Kolonialministerium) Joseph Chamberlain bestürzt feststellte. Die einstige Wirtschaftslokomotive England geriet ins Stocken und war im Begriff, von Deutschland überholt zu werden. "Made in Germany" trieb nunmehr nicht bloß Unternehmern, sondern auch Politikern den Schweiß auf die Stirn.

Wie ein Phönix aus der Asche: Deutschland nach dem Krieg

Freilich: Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurden auf diese Weise "feindliche Produkte" aus Deutschland Zielscheibe des Boykotts. Durch die Umstellung weiter Teile der Wirtschaft auf Mittel für die Rüstungsindustrie fielen allerdings ohnehin allerlei zivile Exportprodukte weg. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Waren "Made in Germany" überraschend schnell wieder auf den Märkten etablieren.

Ausschlaggebend hierfür waren mehrere Faktoren. Der Wiederaufbau Deutschlands etwa stellte keine Selbstverständlichkeit dar, gab es doch starke Fraktionen innerhalb der Alliierten, vor allem auf sowjetischer Seite, ein "Wiedererstarken" der Deutschen ein für alle Mal auszuschließen. Die radikalsten Stimmen schwankten zwischen einer Deindustrialisierung des Landes, angedacht vom amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau ("Morgenthau-Plan"), der auf diese Weise verhindern wollte, dass jemals wieder Krieg von deutschem Boden ausginge, bis hin zur "karthagischen Lösung", der völligen Vernichtung des Landes, wie es zweitausend Jahre zuvor Rom bei seinem damals mächtigsten Widersacher Karthago praktiziert hatte.

Gerade der erzwungene Verzicht auf eine Remilitarisierung erwies sich für die junge Bundesrepublik als Startvorteil, da anders als bei den Großmächten USA und der Sowjetunion der größte Teil der Ressourcen für die Produktion ziviler Güter verwendet werden kann. Nur wenige Jahre nachdem ganze Städte in Schutt und Asche gelegen hatten und die Infrastruktur kaum oder gar nicht mehr benutzbar war, eroberten Handelsprodukte "Made in Germany" erneut den Weltmarkt.

Insbesondere Autos, Maschinen, Werkzeuge und Haushaltsgüter erwiesen sich trotz der Bürde der Kriegsverbrechen als Exportschlager. Zwar steckt heute in Waren "Made in Germany" oft überraschend wenig Deutschland in den Produkten – viele Einzelteile für "deutsche" Autos werden im Ausland gefertigt und erst in Deutschland zum fertigen Produkt verarbeitet -, dem guten Ruf der berühmten Ingenieurskunst tat und tut dies keinen Abbruch.

Hamburger Hafen

Hamburger Hafen (Bild: http://pixabay.com)

Freier Handel nützt auch deutschen Produkten

Nun mag man sich gerade in Zusammenhang mit der angeblichen Bedrohung des Industriestandortes Deutschland durch China die Frage stellen, weshalb nicht einfach Importbeschränkungen oder hohe Strafzölle verhängt werden, um heimische Hersteller vor der oft günstigeren Konkurrenz zu schützen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass derlei protektionistische Maßnahmen kontraproduktiv sind. Großbritanniens wirtschaftliche Vorreiterrolle im 19. Jahrhundert war unter anderem eine Folge des Freihandels.

Günstige und dennoch qualitativ hochwertige deutsche Waren ermöglichte auch weniger vermögenden Bevölkerungsschichten Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs oder "Luxusartikeln", die sie sich ansonsten nicht hätten leisten können. Zudem spornt Wettbewerb an, bessere Waren als die Konkurrenz zu entwickeln. Es war folglich kein Zufall, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit Großbritannien und Deutschland zwei Freihandelsnationen die Weltmärkte beherrschten. Protektionistische Maßnahmen hingegen führen meist dazu, dass Produkte künstlich teuer gehalten werden und die heimischen Hersteller keine Veranlassung für Qualitätssteigerungen und Innovationen sehen.

Um das Gütesiegel "Made in Germany" muss man sich bis auf weiteres keine Sorge machen. Deutsche Autos beispielsweise sind nach wie vor heiß begehrt, vor allem im aufstrebenden China, wo die rasant wachsende Ober- und Mittelschicht gar nicht genug von BMW, Mercedes und Audi bekommen kann. Ohne ihre Exportartikel unter anderem nach Deutschland könnten sich betuchte Chinesen diese Wagen natürlich nicht leisten. Bei aller berechtigten Kritik an der EU: Das Bekenntnis zum freien Handel ist einer der Grundpfeiler des nach wie vor großen wirtschaftlichen Erfolges Deutschland und Garant dafür, dass Produkte "Made in Germany" fast überall zu finden sind – und davon profitieren Millionen Arbeitnehmer und Konsumenten in Deutschland.

Autor seit 13 Jahren
815 Seiten
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