Alles lässt sich lieben

Zweifellos ist es hilfreich, über die Art der – sich anbahnenden – Beziehung Bescheid zu wissen. Die Liebe zur Weisheit mag noch eindeutig und unproblematisch sein. Geliebte Dinge wie das eigene Auto bleiben angesichts ihrer Wertschätzung herzlich ungerührt. Doch der Mangel an Gegenliebe gestattet die unbeschränkte Gestaltung, die eigene Wertschätzung auszudrücken. Kindliches Puppenspiel unterliegt der Phantasie und den Launen des spielendes Kindes. Noch weiter ging der antike Bildhauer Pygmalion, der sich, dem Dichter Ovid zufolge, sein geliebtes Objekt selbst geschaffen hatte. Ob es klug war, der Skulptur die Sterblichkeit zu wünschen? Erwiderung der eigenen Zuneigung darf man bei Tieren erwarten, sofern sie domestiziert sind. Bei manchen Nutztieren entsteht dann leicht der Konflikt mit ihrem Nutzen, sodass sich eine Art Trennungsschmerz beim Gang in den Schlachthof einstellt. Die allgemeine Tierliebe wendet sich daher nicht zuletzt gegen das Ende auf dem Teller. Alle diese Gestalten der Liebe bleiben einseitig und damit eindeutig (nun, vielleicht nicht für das Schaf, wenn der Tierarzt von ihm auch außerhalb der Dienstzeit besonders angetan ist). Und deshalb bergen sie auch kein Konfliktpotenzial.

Konflikte und Missverständnisse kommen erst in zwischenmenschlichen Beziehungen vor – aber das gleich in vielfacher Hinsicht. Man(n) muss ja nur, ganz chevalier courtouis, aufheben und zurückgeben, was eine Dame verloren hat. Ist das, denkt sich Madame vielleicht, schon mehr als formelle Höflichkeit? Und nach einem Austausch höflicher Worte: auch mehr als Nächstenliebe? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, okay. Aber woher soll ich wissen, wie sich jemand selbst liebt? Hierbei ist natürlich noch nicht an Onan zu denken, der es für besser hielt, wenn der Samen in die Erde kommt statt in die Schwägerin (1 Mose 38,9).

 

Eine antike Eigentümlichkeit

Und doch, man kommt natürlich nicht drum herum, auch die leibliche Dimension der Liebe in Augenschein zu nehmen. Das fängt schon bei den Kleinen an. Die Elternliebe sorgt sich um das Wohlergehen des Kindes, angesichts dessen Hilflosigkeit, in jeder Hinsicht. Ist die kindliche Zutraulichkeit einmal geweckt, so lässt sich der Gedanke an die "philia", eben altgriechisch gedacht, noch weiter treiben. Die Rede von der Knabenliebe (auch wenn es griechisch paidophilia heißt und also dem Wort nach Kinder überhaupt bezeichnet) gestattet, v. a. im Deutschen, die Vorstellung der Wechselseitigkeit: die Liebe des Knaben im genitivus subiectivus wie obiectivus: als Liebender wie als Geliebter. Das klingt harmonischer als es der Sache nach gewesen sein dürfte. Denn es ist klar, dass damals nur einer den Ton angab. Vielleicht wäre die Knabenliebe auch die Rettung für den altgriechischen Titanen Kronos gewesen, der seinen Vater zwar entmannte, von diesem aber dafür verflucht wurde: er sollte von seinem Sohn kaltblütig niedergestreckt werden. Auch in psychoanalytischer Perspektive geht die Gefahr eher vom Kinde aus. Dessen – und hier steht wieder eher der Junge im Mittelpunkt als das Mädchen – Triebstruktur ("Penisneid") bedürfe zum Wohle der sozialen Ordnung der Zügelung. Da somit auch die Knabenliebe bestehen bliebe, wäre wiederum die Kastrationsangst unbegründet, nicht zuletzt in der Päderastie. Die Elternliebe, im weit gefassten Sinne, muss sich in jedem Fall, wie es scheint, von zwei Seiten vor einem Abgleiten in erotische Gefilde hüten.

 

Das weniger bekannte Mittelalter

Was ist das geeignete Mittel, um Missverständnisse zu vermeiden? Unterscheidungen machen. Sei es durch Begriffe oder auch in Worten. Gelingt dies beim Vokabular des Sozialen, so markieren die Begriffe die Sozialstruktur. Beispielsweise entwickelte sich im Mittelalter eine Dreiteilung des Herrschaftsbereichs in Stände heraus: Adel, Klerus und der Rest. Diese Stände-Ordnung brachte allerdings in Sachen Liebe die Schwierigkeit mit sich, dass diese jene Ordnung leicht in Unordnung brachte. Der Grund dafür war, dass der Geburtsadel als Tugendadel angesehen werden sollte, um wirklich adelig zu sein, wie Alfred Karnein erläutert ("Liebesfreuden im Mittelalter"). Da aber auch ein Metzger tugendhaft sein konnte, hätte er mit gleichem Recht eine Königin lieben dürfen wie ein König. Also waren soziale Bedingungen für den Tugendadel zu festzulegen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten; beispielsweise nicht arbeiten zu müssen. Wer arbeiten muss, verdirbt sich also den Charakter und ist aus diesem Grunde der Liebe tugendhafter Personen unwürdig. (Was den Klerus angeht, so versteht sich, dass er, zumindest offiziell, nicht von dieser Verführung durch die Liebe betroffen ist, da er bis heute von reiner Gottes-Liebe geleitet wird.)

Andererseits halfen auch Unterscheidungen von Aspekten der Liebe, Missverständnisse zu vermeiden. So diente die Ehe im Mittelalter der Familiengründung bzw. -nachfolge. Beim Adel war dies mit dem sozialen Status innerhalb des Adelsstandes sowie machtpolitischen Erwägungen verbunden, auch der Friedenssicherung. Im 19. Jahrhundert war die Verheiratung der eigenen Kinder für den Herzog Franz Friedrich Anton von Sachsen-Coburg-Saalfeld zudem ein einträgliches Geschäft, da die europäischen Herrscherhäuser für seine Nachkommen zahlten. Diese Interessen schlossen Liebe zwischen Ehegatten nicht aus; sie blieb allerdings dem Zufall überlassen. (Margarete von Tirol etwa machte nicht nur ihr Herz zu einer Festung, sondern ihre Festung zum Instrument ihres Herzens, indem sie ihren Gatten, Johann Heinrich von Luxemburg, 1341 aussperrte.) Da diese Art der Ehe eher unbefriedigend war, bedurfte es außerehelicher Liebespartner, in erster Linie natürlich weiblicher. Auf diese Liebschaften bezogen sich die Gefühle und Leidenschaften. Insofern war der einzig denkbare Ehebruch die Scheidung, während die Liebschaft die Ehe erträglich machte, d. h. stabilisierte. Der Nachwuchs sollte natürlich aus der Ehe stammen. Dies war allerdings nicht unbedingt die bessere Option, da die Verheiratung von Cousins mit Cousinen im europäischen Hochadel zwar politisch vorteilhaft gewesen war, jedoch gesundheitlich schädlich. Damit musste unvermeidlich die Hoffnung auf den Tugendadel sterben. Für kurzfristige Amusements (nicht nur des Adels) war schließlich die Kurtisane zuständig. Die Rollen waren so im Mittelalter klar verteilt, nachzulesen bei Andreas Capellanus "De Amore" (um 1180). Die Entwicklung der Praxis ist entsprechend in der Sprache abzulesen. Das Verb "lieben" verdankt, Grimms Wörterbuch zufolge seit dem 15. Jahrhundert, seinen Aufstieg dem Umstand, dass das Verb "minnen" zu anstößig wurde, um mit ihm ehrenhafte Absichten auszudrücken. Bis dahin war es nur Ausdruck allgemeiner Wertschätzung, mit "leiden" als sein Gegenteil.

"Lieben" in der aktuellen Bedeutung würde wohl niemand ganz frei von "leiden" verstehen, wenn man den Zustand des Verliebtseins damit ausdrücken möchte (auch hier dient bereits Andreas Capellanus' "De Amore" als Zeuge). Ein Ausdruck von Erhabenheit kommt allerdings in dem Extrem der Feindesliebe zum Ausdruck (z. B. Neues Testament Mt 5,44). Das Leiden am Feind wird, jedenfalls in der Predigt, ebenso durch das Lieben verdrängt wie der Hass auf ihn. Diese Sichtweise verdankt sich dem christlichen Verständnis, in dem die Liebe in der agapé gründet, der Gottesliebe (s. Zedlers Universallexikon). Hermann Wohlgschafts dreibändiges Werk "Unsterbliche Paare" widmet sich der religiösen Überzeugung, dass auch die zwischenmenschliche Liebe der Gottesliebe bedarf, um die Vereinigung der Liebenden in der Ewigkeit bzw. die Partnerliebe als endliches Aufschimmern von Unendlichkeit annehmen zu können. Dieser Überwindung der Endlichkeit steht das Liebesverständnis des rabbinischen Judentums gegenüber, das, im Unterschied zum christlichen Unbehagen am Leiblichen, innerhalb des Judentums eine Pflichtschuldigkeit auch im Sinnlichen formuliert (D. Vetter in: G. Binder, B. Effe: "Liebe und Leidenschaft. Historische Aspekte von Erotik und Sexualität"; vgl. Salomons Hohelied, Ex 21,10) – auch eine religiös motivierte Eingrenzung des Liebes-Leids.

 

Moderne: gefühlvolle Formalitäten

Fortschritt zeigt sich bisweilen darin, sauber getrennte Verhältnisse zu beseitigen. Die Macht der Liebe – omnia vincit amor – hat es um 1800 geschafft, die seit 1139 sakramentierte Ehe zumindest im Bereich des Zivilen zu erobern. Sie unterliegt nun den Gefühlen und Vorstellungen des Einzelnen. Die "romantische Liebe" trägt mit vollem Recht diese Bezeichnung und überträgt sie auf die Ehe. Denn darin entwickelte sich das Verständnis der Geschlechterrollen zu einer Beziehung auf Augenhöhe. Seitdem schritt diese Entwicklung voran und man stellte fest: nicht nur Gegensätze ziehen sich an, auch Gleich und Gleich gesellt sich gern. Was sich so in der Liebe offenbart, erweitert die Ehe inzwischen zu einer 'für alle'. Allerdings darf dieser Slogan nicht im Sinne Mielke'scher Genossenschaftlichkeit gedeutet werden ("Ich liebe euch doch alle!"), also dass es eine Ehe für alle gäbe, sondern nur eine Art: die monogame: Der Geliebte meiner Geliebten wäre nicht mein Geliebter, im Gegenteil. Dessen, lieber Leser, muss man sich (noch) nicht vergewissern.

 

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