Bildungslücke?

Wer in der Schule mit Literatur eher wenig anfangen konnte und mit der Zeit feststellt, dass sich Bildungslücken auftun, die man nur allzu gerne und schnell schließen möchte, der kann sich an die folgende Liste halten; sie enthält die aus meiner Sicht nützlichsten literarischen Werke, an die man sich heranwagen sollte.
In meiner folgenden Literatur-Auswahl wird übrigens nicht explizit zwischen Roman, Erzählung, Drama etc. unterschieden.

Schuld und Sühne, Fjodor Dostojewski - Der perfekte Mord

Wer Dostojewskis Werke kennt, der weiß, dass seine Romane schon allein wegen der Vielzahl an russischen Namen, die darin kursieren, nicht immer einfach zu lesen sind. In vielen Romanen verarbeitet er sein eigenes Trauma – seine 8 Jahre im sibirischen Arbeitslager, seine privaten Schicksalsschläge und seine Spielsucht. Mit seinen Romanen wird er noch zu Lebzeiten sehr berühmt und verehrt. Welcher Künstler kann das schon von sich sagen? Als er 1881 stirbt, kommen 60.000 Trauergäste.

In dem Roman Schuld und Sühne geht es um den perfekten Mord. Der verarmte Student Raskolnikow, von sich, seiner Überlegenheit und Gewissenlosigkeit überzeugt, plant den perfekten Mord an einer Pfandleiherin, um sein Studium zu finanzieren und führt die Tat auch aus.

Nicht geplant ist ein zweiter Mord, der sich unmittelbar anschließt. Der Student wird daraufhin von extremen Schuldgefühlen geplagt, so dass er seine Tat gesteht, ins Arbeitslager muss, die Strafe als Sühne begreift und geläutert zurückkehrt. Die Kriminalgeschichte ist atemberaubend spannend gestaltet, das Werk ist allerdings ein ziemlicher Wälzer. Trotz des Unterhaltungswerts geht es in Dostojewskis Werk nicht hauptsächlich um den Mord sondern um Ethik und Moral. Dostojewskis packt die Dinge und Beschreibungen immer von der psychologischen Seite an, was sehr interessant zu lesen ist.

Der Prozess, Franz Kafka - Die nicht-greifbare Bedrohung

Franz Kafka, der notorische Junggeselle der Weltliteratur, wie er auch genannt wird, kam 1883 in Prag zur Welt und hatte zeitlebens ein sehr schwieriges Verhältnis zu seinem despotisch veranlagten Vater, der ihn als Kind angeblich mit für ihn unerklärlichen Strafen belegte. Das mag eine Erklärung für einige seiner Werke sein, in denen die Hauptfiguren schuldlos in ausweglose Situationen geraten und von Gesetz und Verwaltung erdrückt werden.

"Der Prozess" wird aus der Sicht des Bankangestellten Josef K. erzählt, der eines Tages beschuldigt wird, ein Verbrechen begangen zu haben, ohne dass er jemals erfährt, was ihm zur Last gelegt wird. Er versucht verzweifelt seine Unschuld zu beweisen, findet aber kein Gehör. So wird er von einem nicht autorisierten Gericht schließlich zum Tode verurteilt. Josef K. wird zum Opfer einer übermächtigen Autorität, er gerät in die Strudel eines Systems, gegen das er nichts ausrichten kann. Letztendlich endet seine zermürbende Suche nach der Wahrheit in der absurden Anerkennung (s)einer Schuld. Die surreale Geschichte ist so geschrieben, dass der Leser selbst immer mehr ein Gefühl der völligen Machtlosigkeit bekommt. Im Grunde ein hochaktuelles Thema, auch in der heutigen Zeit.

Das Tagebuch der Anne Frank, Anne Frank - Der Versuch eines normalen Lebens im Versteck

Warum für mich das Tagebuch der Anne Frank zu den Top 10 der Weltliteratur zählt? Weil Annes Tagebuchnotizen zeitlos und authentisch sind und aus Sicht eines ganz normalen Mädchens zur Zeit der Zweiten Weltkriegs geschrieben wurden und – was besonders wichtig ist – weil das Tagebuch zum Zeitpunkt des Schreibens nicht den Anspruch hatte, zu einem Roman zu werden.

Es handelte sich lediglich um den Versuch eines Mädchens mit der Situation fertig zu werden, sich als Jude vor den Nazis verstecken zu müssen. Das Tagebuch wurde zu einer Freundin, der man Gedanken und Gefühle anvertraut. Was Kinder und Jugendliche heute in Geschichtsbüchern über diese Zeit lernen, sollte durch Augenzeugen-Literatur dieser Zeit untermauert werden – dann lernt und verinnerlicht sich der Stoff viel besser.

Der Zauberberg, Thomas Mann - Gesellschaft im Umbruch

Der Roman erschien 1924. Die Hauptfigur Hans Castorp verbringt 7 Jahre in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen, bevor er dann als Soldat in den ersten Weltkrieg zieht. Obwohl geplant war, sich nur 3 Wochen im Sanatorium zu regenerieren, findet er Gefallen an dem sorglosen Leben in Davos und verliert das Gefühl für jegliches Zeitempfinden. Auch seine Zuneigung zu Frau Chauchat, einer kranken Russin, trägt dazu bei, dass er den Sanatoriumaufenthalt verlängert. Er gerät dort bald in den Einflussbereich mehrerer interessanter Kurgäste, beispielsweise, einem italinienischen Republikaner, einem Kommunisten und einem Jesuiten.

Hans Castorp, der im übertragenen Sinne Deutschland repräsentiert, steht im Zentrum der Diskussionen über das Weltbürgertum, die Freimaurer, die Religion, das Preußentum und die Demokratie. Castorp tendiert in alle Richtungen, verstrickt sich in den Gesprächen und seinen Gedanken jedoch immer mehr, erkennt keine klare Linie mehr und läuft auch im Schneegestöber bildlich immer im Kreis. Die Geschichte endet als Castorp in den ersten Weltkrieg zieht und dort nun im reellen Leben zwischen allen Lagern steht. Alle Diskussionen auf dem Zauberberg waren insofern nutzlos, als sie einem reinen Vernunftdenken entsprangen. Ein Buch von über 900 Seiten lässt sich nicht kürzer zusammenfassen und bedarf der eigenen Lektüre.

Der Zauberberg. Roman.
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Der Fremde, Albert Camus

Der Fremde (franz. Originaltitel L'étranger) von Albert Camus erschien 1942 und ist eines der großen Werke der Philosophie des Absurden. Die Geschichte spielt im Algerien der 30er Jahre und ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil ist Meursault, der Protagonist der Handlung, auf der Beerdigung seiner Mutter. Der Leser erfährt von der Gleichgültigkeit Meursaults, die angeblich auf Gegenseitigkeit beruhte. Im zweiten Teil der Geschichte erzählt Meursault aus der Ich-Perspektive von seinem alltäglichen Leben. Es passiert nicht viel in seinem Leben, die meiste Zeit zeigt Meursault ein durch und durch gleichgültiges Verhalten und lebt in den Tag hinein, ohne sich viele Gedanken zu machen und ohne irgendein Interesse zu zeigen. Eines Tages tötet er am Strand einen Araber, zufällig, wie er sagt. Anstatt ihn sofort zu verurteilen, geht es in dem Gerichtsverfahren mehr um sein moralisch verwerfliches Leben als um die eigentliche Tat. Das Buch ist einfach zu lesen und in seiner Absurdität einzigartig. Albert Camus schrieb diese Geschichte meisterhaft und wurde 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry - Ein Märchen der Moderne

Die Erzählung Der kleine Prinz von Saint-Exupéry erschien 1943, als sich der Autor in den USA im Exil befand. Das Werk, das in über 100 Sprachen übersetzt wurde, ist ein modernes Märchen mit handgezeichneten Illustrationen des Autors und kritisiert den Werteverfall unserer Gesellschaft. Das Werk wird zuweilen schon als "Ersatzbibel" gehandelt und hat absoluten Kultstatus. Der kleine Prinz trifft auf einen Piloten, der in der Wüste notlanden musste und erzählt ihm seine Geschichte. Der kleine Prinz ist ein Suchender, nach der Liebe und nach Frieden. Die Erzählung verleiht dem Nachkriegseuropa ein Gesicht.

Das Hörbuch dazu

Das Besondere an diesem Buch ist seine Zeitlosigkeit und die Tatsache, dass es für jedes Lesealter geeignet ist. Als Kind fasst man die Erzählung als schönes lehrreiches Märchen auf, das die Phantasie anregt, als Erwachsener sieht man die Philosophie dahinter und stellt den historischen Bezug her. In jedem Fall lehrt uns der kleine Prinz die wahren wichtigen Dinge des Lebens.

Die Elenden, Victor Hugo - Menschlichkeit siegt

Die Elenden  (im franz. Original Les Misérables) ist einer der bedeutendsten Romane Frankreichs. Hugo erzählt den Lebens- und Leidensweg von Jean Valjean, der wegen eines Brot-Diebstahls zu jahrelanger Zwangsarbeit auf den Galeeren verurteilt wurde, nach seiner Freilassung zu Reichtum gelangt und die Armen und Schwächsten der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts unterstützt und damit die Welt damit ein bisschen besser macht. Beispielhaft setzt er sich für das Wohlergehen von Fantines Tochter Cosette ein. Er wird jedoch von dem Polizisten Javert gejagt. Der Roman glänzt durch detailgetreue Beschreibungen des alten Paris und der Charaktere, was alles sehr düster und wirklichkeitsgetreu erscheinen lässt. Wer Wert darauf legt, als belesen  zu gelten, sollte sich durch den dicken Roman hindurchlesen. Es handelt sich zweifelsohne um ein literarisches Meisterwerk.

Nathan der Weise, Gotthold Ephraim Lessing - Diplomatie und Toleranz auf hohem Niveau

Lessings Werk aus dem Jahre 1779 beschäftigt sich mit der Toleranz zwischen den konkurrierenden Religionen Judentum, Christentum und Islam. Das Drama spielt in der Zeit nach dem dritten Kreuzzug. Der jüdische Kaufmann Nathan adoptierte ein christliches Kind und zog es in seinem Haus in Jerusalem auf. Bei einem Brand wird diese Ziehtochter von einem christlichen Tempelherrn aus dem Feuer gerettet. Es entwickelt sich eine Familiengeschichte, die immer im Zeichen der Religion steht.

Der Protagonist Nathan wurde in Jerusalem für seine Warmherzigkeit, Weisheit und Toleranz geschätzt. So wurde er vom Sultan, der zwischen den Religionen vermitteln wollte, gebeten, ihm zu sagen, welche der drei Religionen denn nun die richtige sei. Nathan greift diplomatisch zur Ringparabel, um symbolisch zu vermitteln, dass alle drei Religionen als gleichwertig zu betrachten sind und sich die Religion als richtig erweist, die das mit guten Taten auch beweist. Ein hochbrisantes Thema im religiösen Fanatismus von heute und eine absolut zu empfehlende Lektüre, wenn auch die Sprache Lessings anfangs etwas gewöhnungsbedürftig ist.

Der alte Mann und das Meer, Ernest Hemingway - Was lehrt uns das Leben?

Hemingway ist eine Lebensparabel gelungen, die 1952 erschien. Er erhielt dafür den Nobelpreis. Die Geschichte ist mit einfachen Worten und Sätzen geschrieben. Ein alter kubanischer Fischer fährt jeden Tag aufs Meer hinaus, ohne jedoch nennenswerten Fang zu machen. Es unterstützt ihn zeitweise der junge Manolin, dessen Eltern ihn dann aber zu einem anderen erfolgreicheren Fischer schicken. Als der Alte eines Morgens auf die See hinausfährt beißt ein Riesenfisch an, den der alte Fischer allein kaum an Bord ziehen kann.

Er braucht dafür 2 Tage, die er im Zwiegespräch mit dem Fisch verbringt und will dann seine Pracht nach Hause bringen. Von dem vielen Blut werden jedoch Haie angelockt, die seinen Fang bis aufs Gerippe auffressen. Zu Hause angekommen steht er mit leeren Händen da. Sein Kampf gegen die Naturgewalten und die Unbesiegbarkeit der Willenskraft bringt ihm im Dorf aber große Bewunderung ein. Manolin sieht ihn als Vorbild und kehrt zu ihm zurück.

Der Mann und das Meer (Bild: Pixabay)

Die Leiden des jungen Werther, Johann Wolfgang von Goethe - Aufkeimender Individualismus in der Gesellschaft

Die Leiden des jungen Werther von Goethe erschien 1774 in der großen Sturm und Drang-Zeit. Der junge Werther verliebt sich in die kokette Lotte, die die Muttererrolle für die 8 jüngeren Geschwister einnimmt und ihrer Mutter am Sterbebett die Ehe mit einem anderen, nämlich Albert, zugesagt hat. Werther wird als Freund der Familie empfangen. Lotte hält ihr gesellschaftliches Versprechen.

Als sie den traditionell geprägten Albert heiratet, bricht für Werther eine Welt zusammen. Er begeht Selbstmord. Die Figur des Werthers verkörpert ein individuelles Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Zwänge der Zeit und ist von großer Relevanz für die Entwicklung hin zum Individualismus, wie wir ihn heute leben. Durch die schöne poetische Sprache ist Goethes Werther ein pures Lesevergnügen.

Noch mehr?

Wer übrigens noch nicht genug hat und jetzt erst richtig loslegen möchte, dem kann ich den Kanon von Marcel Reich-Ranicki ans Herz legen.

Ihm kam es bei seiner Liste auf "den literarischen Wert und auf die Lesbarkeit an".
Mir übrigens auch.

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