Das Bildnis des Grafen - Leseprobe Kapitel II

Es war dunkel, als er aufwachte. Ihm war flau und elend, wie immer, wenn er schlecht geträumt hatte. Der eingebildete Geruch von feuchtem Moos, Torf und dem ätzenden Dunst des allgegenwärtigen Schießpulvers in Nordfrankreich tat nichts, um dem abzuhelfen. Brechreiz überflutete ihn, und er schluckte krampfhaft. Die omnipräsenten Kopfschmerzen registrierte er gar nicht mehr. Stille lag über dem hohen Saal, eine Ruhe, wie er sie an der Front zu fürchten gelernt hatte, die Ruhe vor dem Sturmangriff. Zitternd wartete er auf das schrille Signal der Trillerpfeife, das jedoch ausblieb. Trotz der Übelkeit rappelte er sich auf, getrieben von einem unbeschreiblichen Grauen. Sein Magen rebellierte, während er sich über einen Kameraden wand. Der Ekel hatte ihn gelehrt, über menschliche Hürden hinwegzukriechen ohne sie zu berühren. Er wollte nicht nachsehen, ob er tot war oder verwundet. Ein Glas Wasser wäre schön, sein Schlund war völlig trocken. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, tastete sich an der Wand entlang, um sich zu orientieren. Die Dunkelheit nahm mit jedem seiner Schritte ab.

Am Ende des Korridors nahe der Haustür schimmerte Licht, das ihn magisch anzog. Die beiden Stockwerke, die ihn von der Lichtquelle trennten, meisterte er wie im Schlaf. Halb aufgestoßen, bot ihm die Tür gerade soviel Platz, dass er seine geschmeidige Gestalt hindurchschlängeln konnte, ohne ein Geräusch zu verursachen. Er befand sich in der Küche, seine Hand streifte eine noch warme Herdplatte und einen Speiseaufzug zum herrschaftlichen Esszimmer in der zweiten Etage, just rechter Hand davon. Inzwischen war die durchdringende Helligkeit verloschen, was ihn auf das Höchste beunruhigte. Doch am Kamin flackerte jählings eine Stichflamme auf. Er fuhr herum; plötzlich wackelig auf den Beinen, setzte er sich auf einen Schemel und barg ächzend das Gesicht in den Händen. Was wollte er eigentlich hier? Und wie kam er zurück? War er überhaupt von irgendwo hergekommen?

"Hallo, Valentine Abner Whitehurst", flüsterte eine Stimme.

Alarmiert sah er auf, vor ihm lehnte ein drahtiger junger Mann am Anrichtebuffet, die Arme vor der Brust verschränkt, ein Lächeln auf den Lippen. Das Feuer vom Kamin projizierte dunkle Schatten auf sein Gesicht, machte es dem Jungen schwer, ihn zu identifizieren, obwohl er wusste, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegneten. Zwischen ihnen herrschte Vertrautheit, die Valentine instinktiv vermuten ließ, dass es ein Fehler wäre, sich ihm zu verschließen. In der Tat war dieser Mensch der erste seit Ewigkeiten, dem es gelang, seinen Schutzwall zu durchbrechen. Der ersten Eingebung folgend, bewegte Valentine die Lippen, um ihn zu fragen, wer er war, doch er erkannte ihn im nächsten Moment, sobald er sich vom Buffet abstieß, sich in die Hocke niederließ und dem Jungen in die Augen sah. Seine waren haselnussfarben, musterten ihn intensiv und ein wenig bekümmert. Valentine wich ihnen aus, ließ den Blick über das glänzende dunkle Haar und die sonderbar anmutend helle Strähne (war sie grau?) darin gleiten, bevor er Einzelheiten der vornehmen Physiognomie mit denen des Knaben verglich. Natürlich war er älter, die Züge ausgeprägter, bestimmt von einer Traurigkeit, die Valentine physisch zu spüren glaubte, und doch unverkennbar der fröhliche Knabe von gestern. Er hatte sich äußerlich nicht allzu sehr verändert, trotzdem sah man ihm die Spuren des Alters an. Wo war seine Unbeschwertheit, die Valentine so beeindruckt hatte? Die Haut schien unnatürlich blass, nahezu wächsern, was die tiefe Lage der Augen betonte, ihm ein geisterhaftes Aussehen verlieh. "Du brauchst keine Angst zu haben", erklärte der wie aus dem Nichts Aufgetauchte, ein unterschwelliges Lachen in der Kehle. "Ich trachte dir nicht nach dem Leben."

Mit einer Behutsamkeit, die Valentine erschreckte, zeichnete er die Narben an dessen Hals nach, ließ die Finger von dort über die Wange hinaufwandern zu der vernarbten Stelle, wo ihn der Querschläger erwischt hatte. Als der Fremde sich über ihn beugte, das Haar zur Seite strich und die Narbe zielstrebig, jedoch sachte küsste, verebbte der dumpfe Schmerz schlagartig. Valentine seufzte, hob die Hand und drückte die Finger des anderen erneut an seine Schläfe, weil er nicht glauben konnte, wie ihm geschah. Sie strahlten eine wohltuende Wärme aus, bannten die hartnäckige Pein. Fast fühlte er sich schuldig ohne die jahrelang andauernden Kopfschmerzen, die er als eine Art Strafe für seine damalige Dummheit akzeptierte. Der Fremdling lächelte wieder, sagte aber nichts. Vielmehr schien er zu warten, dass Valentine das Wort ergriff. Trotzdem musste er eine Weile überlegen, ehe er sich besann, wie man ein Gespräch führte, dass dazu zwei Leute gehörten. Dem Fremden war es offenbar wichtig, ihn reden zu hören. Seine Körperhaltung drückte Offenheit aus, und sein Lächeln wurde breiter, als Valentine endlich wagte, seine Gedanken in Worte zu kleiden.

"Du bist der Junge aus dem Garten", stellte er fest, er wunderte sich, woher seine Stimme erscholl, klar und deutlich hörte er sie durch den Raum schweben, aber sie kam nicht aus seinem Mund. Es ging ganz einfach, und er hatte so viele Fragen, dass ihm die Worte regelrecht heraussprudelten. Dass der Knabe nun als Mann vor ihm stand und er trotzdem auf eine formelle Anrede verzichtete, kam ihm dagegen selbstverständlich vor. Der andere nickte bestätigend, mittlerweile war er an die Spüle gegangen, überreichte Valentine ein Glas Wasser, das dieser begierig leerte. "Wie heißt du? Woher kennst du meinen Namen? Und deine Mutter – sie stürzte aus dem Fenster, warum hat Gaspard euch nicht gesehen? Wie geht es ihr? Habt ihr Hilfe geholt? Die Leute sind einfach mit dir weggegangen, aber sie lag da und regte sich nicht. Wo warst du? Und wo ist sie jetzt? Ich wollte Gaspard um Hilfe bitten, doch ich konnte nicht – ich bin – ich weiß nicht was. Danach kann ich mich an nichts entsinnen."

Autor seit 13 Jahren
77 Seiten
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