Der hohe Kurs der Individualität

Wissenschaft, Kultur und auch Wirtschaft sind der Ausdruck einer langen Freiheitsgeschichte der Menschheit. Wenn die Infragestellung des Ichs durch technologische und soziale Entwicklung sowie wissenschaftliche Erkenntnisse (Hirnforschung) berechtigt ist, sollte man den großen Bogen nicht aus den Augen verlieren. Die (westliche) Erfolgsstory des Individualismus, die über Jahrhunderte erkämpfte Errungenschaft "Ich" sagen zu können und zu dürfen. Wobei der Mensch immer ein Abhängiger bleibt. Von Beginn seiner Geburt bis zu seinem letzten Tag. Daher ist niemand ein Ich nur allein, sondern immer auch von "Dus" bestimmt. Ohne Netze, die auch Sicherheitsnetze sind, hätte das Ich nur wenig Überlebenschancen. Der deutsche Starphilosoph Richard David Precht meint: "Wir stehen vor den Scherben der Ich-Philosophie". Ist das wirklich so schlimm? Vielleicht doch nicht, wie Konrad Paul Liessmann, der wissenschaftliche Leiter des Philosophicums in Lech (Österreich) denkt: "Das Ideal jeder normalisierten Durchschnittlichkeit, das eigentümlich dazu kontrastiere, dass jeder sich einbildet (oder ihm eingeredet wird) etwas Unverwechselbares, Einzigartiges zu sein. Oder sind sie Massentourist?" Kein Bildungsreformer findet etwas daran, einerseits die Individualisierung des Unterrichts und die Förderung der besonderen Begabungen des Einzelnen zu fördern, und gleichzeitig für Bildungsstandards, Zentralmatura und den Einsatz von Testbatterien einzutreten, die alles an einem gültigen Mittelwert auszurichten.

Der "Dämon" Internet

Roland Reuß, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft, hat in seinem Buch "Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch" eine Analyse der Internetgegenwart vorgelegt. Genau genommen ist seine Conclusio, das es keinen Sinn hat, das Internet zu dämonisieren. Vielmehr muss erst ein Umgang damit entwickelt werden. Für Reuß war es "sonnenklar", dass Google & Co. ihre Daten der NSA zur Verfügung stellen, sollten es die Verteidigungsinteressen der USA "notwendig machen". Die Enthüllungen seien aber auch eine Chance für ein Überdenken der eigenen Internet-Gewohnheiten. Für Reuß ist das Internet per se nicht problematisch, das Medium kein "Dämon". Es geht um die Frage, welche Bedeutung messen die Menschen dem Internet zu. Zwei Mal am Tag E-Mails abzurufen, würde genügen. Universal vor dem Computer zu sitzen ist Ausdruck der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Das wirkt sich so aus, dass die Leute, die sich so apathisieren lassen, nicht mehr positiv wirken können. Roland Reuß :"Es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn jeder für sich die richtigen Entscheidungen treffen würde. Braucht man einen Twitter-Account oder nicht? Für ein mittelständiges Unternehmen sicher ein Vorteil. Eine Privatperson sollte sich genau überlegen, ob sie auf Facebook vertreten sein muss." 

Das I-Phone Gottes

"Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" lautet der Titel eines Buches von Richard David Precht. "Gibt es "(m)ich" überhaupt?". In welchen Netzen ist der einzelne gefangen - oder von welchen Netzen wird er getragen? Eine interessante These zu "Ich und Wir" hat der Benediktinermönch Michael Köck. In der Uroffenbarung Gotte am Berg Sinai - wie sie bis heute im Selbstverständnis des Judentums, der ersten monotheistischen Religion und dann weiter im Christentum und dem Islam tradiert wird - gefunden. Gott offenbarte sich als ICH. "ICH bin Adonai, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat..." (Ex 20,2). Der hebräische Ausdruck lautet "anochi", die feierliche Langform von "ani" - in dieser Sprache gibt es zwei Ausdrücke für "ich". Gott sagt also, bevor er etwas anderes offenbart, "ICH". Gott präsentiert hier ein I-Phone in einem archaischen Sinn des Wortes. Sein "ich" (englisch "I") lässt er für Moses vornehmlich "ertönen" (griechisch "phonein") und beginnt so ein Zwiegespräch. Jeder Mensch ist in seinem Ich-Kern ein unauslotbares, originelles Geheimnis - unabhängig von allen sekundären Adjektiven, die man ihm verleiht - neurotisch, gläubig, agnostisch, afrikanisch, europäisch, dick, dünn, und so weiter. Dementsprechend sollten sich die Menschen auch aus einer Mischung aus Neugierde und Ehrfurcht begegnen.

 

Wir alle spielen Theater

Erving Goffmann hat schon 1959 in "Wir alle spielen Theater" die Strategien der Alltagsinszenierung sehr treffend beschrieben. Doch seit damals hat sich vieles geändert. Begonnen hat es mit dem Mobiltelefon, daraus wurde das Smartphone und jetzt der Tablet-PC. Die spiegelnden Flächen haben für den Menschen eine neue Dimension geschaffen. Auf der digitalisierten Mobilkommunikation scheint es leicht, sich selbst zu inszenieren. Eine Versorgung mit tausendfachen Möglichkeiten der symbolischen Interaktivität. Ich maile, also bin ich. Ich bin erreichbar, also bin ich wichtig. Ich bin "on" oder im "standby", also bin ich angekommen bei mir selbst als Prachtexemplar eines vernetzten Neonomaden der digitalen Globalisierung. Irgendwann wurde aus der Faszination ein Fetisch, aus der Vernetzung die Verfolgung durch unerledigte Anfragen. "Der Transparenztotalitarismus der Ich-Inszenierung ist auch ein Mittel der Systemstabilisierung. Es verändert nicht das Ich oder revolutioniert es gar (...). Es kriecht kalt in uns hinein, während wir umgeben von Millionen andere Ichs durch das Netz streifen und um unser Leben posten." (Miriam Meckel - Kommunikationswissenschafterin in St. Gallen). 

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