Der Moderne Knigge - Lektüre von vor 100 Jahren
Wer die Versuchung nicht kennt, ein Buch zu klauen, der verdient auch keine Freiexemplare (Ernst Rowohlt). Der "Moderne Knigge" ist eines von vielen, die kostenlos erhältlich sind.Der Moderne Knigge von Julius Stettenheim
1906 verfasste Julius Stettenheim - bekannt für seine Parodien und Satiren - den Modernen Knigge, in dem er die Anstandsregeln der damaligen Zeit aufs Korn nimmt. Die amüsante Beschreibung der damaligen Gesellschaft strotzt nur so von urkomischem Sprach- und Wortwitz. Trotz der angestaubten Sprache von 100 Jahren ist es eine amüsante Lektüre für Kurzweil.
Leseprobe
"Es giebt viele Schriftsteller, welche mit großem Biereifer nach Bedürfnissen suchen, von denen sie sich nur einbilden, daß es längst gefühlte sind, denn es stellt sich nur zu bald heraus, daß kein Mensch das betreffende Bedürfnis längst gefühlt hat; der Schriftsteller am allerwenigsten längst, meist gar nicht. Er hat nur längst gefühlt, daß er einen Stoff zu einem Feuilleton braucht, und so hat er denn, wenn er den Stoff gefunden hat, ein gar nicht vorhandenes Bedürfnis zu einem längst gefühlten erhoben, um den Leser, der gewöhnlich lesensmüde zu sein pflegt, wachzuhalten, indem er ihm vorgaukelt, daß er etwas Nützliches schreiben wolle."
Wer war Julius Stettenheim?
Der Schriftsteller Julius Stettenheim wurde am 30 Dezember 1831 in Hamburg geboren und starb am 30. Oktober 1916 in Lichtenfelde, einem kleinen Ort in der nähe von Berlin.
Nach dem Tot seines Vater, der Kunsthändler war, studierte er von 1857 bis 1860 an der Humboldt Universität zu Berlin Geschichte, Philosophie und Literatur. Bereits als Student begann er Possen, Singspiele und Humoresken zu schreiben. Während seines Studiums begann er einen satirischen Kalender "Almanach zum Lachen" (1857 - 1863) herauszugeben.
Nach seinem Studium kehrte Stettenheim nach Hamburg zurück und gründete 1862 das humoristisch-satirische Blatt "Hamburger Wespen". Schon in der ersten Ausgabe empfahl sich das Blatt seinen Lesern mit den Worten:
"Die Wespen lassen den ersten Flügelschlag ihrer freien Seele rauschen. [...] Die Wespen verwunden Keinen, der sie nicht ärgert. Moral: Man ärgere sie nicht! [...] Die Farbe, mit der sie gedruckt werden, ist Schwarz, jedoch wird man, wenn man genau hinsieht, weder Roth, noch Gold dabei vermissen. [...] Sie bitten, daß Gott ihr Deutschland gegen dessen Väter und ihren Redakteur gegen den Staatsanwalt in Schutz nehmen möge! Amen!"
Erfolgreich erregten die "Hamburger Wespen" bereits im ersten Jahr ihres Bestehens den Unmut Otto von Bismarcks, der zu dieser Zeit unter heftigem Beschuss im preußischen Verfassungskonflikt stand. Dafür bedanke sich das Blatt 1863 in seiner Nummer 18:
"Ha, Bismarck, Wespenleser Du,
Bewegt Gemüth, gieb Dich zur Ruh,
Was hilft dein Criminal-Edict?
Die Wespen sind Dir zu geschickt. Aetsch! Aetsch!
Und würdest Du auch nicht am End'
Der Wespen fester Abonnent,
Für die Reclame sagen wir
Den Besten Dank, Herr Bismarck, Dir. Aetsch! Aetsch!"
Wegen eines Haftbefehls konnte Stettenheim Hamburg vorerst nicht verlassen. Als dieser 1866 mit der Amnestie aufgehoben wurde, zog er 1867 nach Berlin. Hier benannte er sein Blatt in "Berliner Wespen" um. In Berlin arbeitet er beim "Kladderadatsch" und weiteren Zeitschriften und Zeitungen. 1893 wurde er Redakteur der Beilage "Wippchen" im "Kleinen Journal". Als Redakteur Wippchen, der aus Bernau fiktive Kriegsberichte lieferte, wurde Stettenheim berühmt. Noch heute gibt es in Berlin die Redensart "Mach keine Wippchen", wenn jemand recht offensichtlich aufschneidet.
Julius Stettenheim war auch Mitbegründer der "Freien Bühne". Das hinderte ihn genau so wenig, den Naturalismus in Parodien und Satiren zu verspotten. Dort trat er als Verfasser von einigen Aphorismen auf – z.B. 1904 mit "Nase- und andere Weisheiten".
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Preiswerter kommt man an Lesestoff nicht ran. Viel Vergnügen wünsche ich.
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)