Der Musterschüler: Novelle von Stephen King
Nazi-Kriegsverbrecher und junger "Musterschüler" freunden sich unfreiwillig an. Provokante Novelle von Stephen King.Der Nazi und der Musterschüler
odds Hartnäckigkeit zermürbt den alten Mann und schließlich gesteht er ein, als "Bluthund von Patin" Teil der Nazi-Maschinerie gewesen zu sein. Allerdings sei er nicht erpressbar, da er kein Geld mehr besitze, nachdem er sein aus Deutschland geschmuggeltes Restvermögen bereits aufgebraucht habe. Zu seiner Überraschung winkt der amerikanische Junge ab: Ihm gehe es nicht um Geld.
Vielmehr interessierten ihn die Verbrechen der Nazis, und Dussander solle ihm aus erster Hand darüber berichten. Widerwillig öffnet der "Bluthund von Patin" längst verschüttet geglaubte Gräber und lässt die Vergangenheit wieder aufleben. Sehr zu Freude Todds, der sich an den grausamen Details gar nicht satthören kann.
Allerdings haben die Geschichten Alpträume und Konzentrationsschwierigkeiten zur Folge, was schließlich zum rasanten Absacken seiner schulischen Leistungen führt. Nur mit Dussanders Hilfe gelingt es dem ehemaligen Musterschüler, in der Schule die Kurve zu kratzen. Langsam, aber sicher schlägt sich der verderbliche Einfluss des Kriegsverbrechers in Todds Charakter nieder. Aus Wut und Frustration gegenüber der Welt beginnt er damit, Tiere zu quälen und zu töten. Schließlich reichen die Tiere nicht mehr...
Meisterhafte Stephen-King-Novelle: "Der Musterschüler"
Wiewohl Horrorkönig Stephen King vor allem für seine mitunter üppigen Romane bekannt ist, zählen einige seiner Kurzgeschichten und Novellen zu den meist verkannten Prunkstücken seines Schaffens. Dies gilt insbesondere für die 1982 erstmals in der Geschichtensammlung "Different Seasons" (1984 in Deutschland als "Frühling, Sommer, Herbst und Tod" veröffentlicht) gedruckten Novelle "Der Musterschüler". Darin schildert Stephen King die verhängnisvolle Faszination eines ganz normalen amerikanischen Jungen für die Gräuel des Dritten Reiches.
Diese Herangehensweise besitzt auch für deutschsprachige Leser, die angesichts des immer wieder durchgekauten Themas genervt die Augen rollen sollten, seinen ganz speziellen Reiz. Ohne mit erhobenem Zeigefinger zu moralisieren, beginnt die Geschichte denkbar harmlos, ganz so, als befragte ein Junge seinen Großvater nach dessen Kindheit. Zunächst weigert sich der enttarnte Nazi-Kriegsverbrecher, seine Schandtaten ausgerechnet einem Teenager zu gestehen. Aber im Laufe der Zeit entspinnt sich zwischen den beiden eine Zweckgemeinschaft: Dem Jungen werden reale Horrorgeschichten geboten, die er sonst nirgends vorfinden würde, der alte Mann findet einen geduldigen Zuhörer und gewinnt seine verloren gewähnte Vitalität zurück.
Ex-Nazi gewinnt die Oberhand
Im sachlichen Stil geschrieben, lässt die Geschichte beide Protagonisten ausführlich zu Wort geraten und nimmt keinerlei moralische Wertung vor. Dadurch fällt es dem Leser selbst zu, über die Verbrechen Dussanders schockiert zu sein, der sich selbst lediglich als ausführendes Organ von Befehlen sieht und gleichermaßen opportunistisch, wie auch den Umständen entsprechend rational handelte.
Im Verlaufe der sich über mehrere Jahre hinweg erstreckenden Handlung rückt die grausige Vergangenheit in den Hintergrund und Dussanders Einfluss auf Todd gewinnt an Bedeutung. Der einst unbeschwerte, fröhliche Junge beginnt, seine Umwelt mit anderen, hasserfüllten Augen wahrzunehmen.
"Der Musterschüler" verfilmt von Bryan Singer
Trotz seines Alters beherrscht Dussaner / Denker die literarische Bühne. Zwar ertappt sich der Leser an keiner Stelle dabei, Sympathien für den ehemaligen Kriegsverbrecher zu verspüren. Dafür gewinnt man interessante Einsichten in die Psyche eines sich bewusst in den Dienst des Bösen stellenden Menschen, der unter anderen Umständen auf Grund seiner Intelligenz vielleicht ein wertvolleres Mitglied der Gesellschaft geworden wäre.
Was viele der älteren Werke Kings auszeichnet, ist auch in "Der Musterschüler" vorzufinden: Eine von Beginn weg fesselnde Handlung, hervorragende Charakterisierungen und grimmiger, oft makabrer Humor.
1998 verfilmte Bryan Singer ("X-Men", " Superman Returns", "Operation Walküre – Das Stauffenberg Attentat") die Novelle mit Ian McKellen in der Rolle des Nazi-Kriegsverbrechers Dussander.
Schwere Kost: Stephen Kings "Der Musterschüler"
Obwohl das Ende des Filmes drastisch von der literarischen Vorlage abweicht, vermag er auch Dank der Hauptdarsteller zu überzeugen. Trotzdem ersetzt der Streifen nicht das Lesen der gleichnamigen Novelle, da viele Details und feinen Nuancen zu Gunsten der Laufzeit geopfert werden mussten.
Typisch für King sind einige Querverweise auf seine eigenen Werke: Dussander kannte Andy Dufresne, den Protagonisten der ebenfalls in "Frühling, Sommer, Herbst und Tod" enthaltenen Geschichte "Die Verurteilten" offenbar persönlich. Zudem erwähnt er an einer Stelle den unheimlichen Springheel Jack aus der "Nachtschicht"-Kurzgeschichte "Erdbeerfrühling".
Fazit: Zugegebenermaßen heikles Thema, das Stephen King aber souverän auf originäre Weise aufzurollen versteht. "Der Musterschüler" ist zweifellos eine seiner besten Novellen, wenn auch keine leichte Kost für Zwischendurch.
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)