Das Gebot der Nächstenliebe

Das Gebot der Nächstenliebe ist im Christentum von fundamentaler Bedeutung. Nächstenliebe bedeutet, dass man seine Mitmenschen so annehmen soll, wie sie sind, und dass man ihnen auf jeden Fall helfen soll, wenn sie Hilfe benötigen. Es geht also bei der Nächstenliebe immer darum, dass man anderen Menschen hilft, die Hilfe brauchen, und zwar ohne Ansehen der Person. Gleichzeitig ist Nächstenliebe verbunden mit der Liebe zu Gott sowie mit der Liebe zu sich selbst. Es handelt sich hier also um ein untrennbares Beziehungsgefüge aus Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe.

So wird Jesus im Matthäusevangelium mit den Worten zitiert: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzen Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das größte und wichtigste Gebot. Ein zweites ist ebenso wichtig: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Mit diesen beiden Geboten ist alles gesagt, was das Gesetz und die Propheten fordern." (Matthäus 22,37‑40) Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass der Mensch deshalb seine Mitmenschen lieben soll, weil Gott ihn zuerst geliebt hat. Jemand, der seine Mitmenschen hasst, kann mit anderen Worten nicht gleichzeitig Gott lieben. (vgl. 1. Johannes 4, 10+11, 20+21)

Das Gebot der Feindesliebe

Jesus hat schließlich die Nächstenliebe sogar zur Feindesliebe erweitert. So heißt es in der Bergpredigt: "Ihr wisst, dass es heißt: Du sollst deine Mitmenschen lieben und du sollst deine Feinde hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Damit erweist ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt es regnen für Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nur die liebt, die euch Liebe erweisen, was für einen Lohn habt ihr dafür zu erwarten? Tun das nicht sogar Leute wie die Zolleinnehmer? Und wenn ihr nur zu euren Brüder freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht sogar die Heiden, die Gott nicht kennen? Ihr aber sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist." (Matthäus 5, 43-48, vgl. auch Lukas 6, 27-36).

In seinem Brief an die Römer ergänzt der Apostel Paulus: "Die Liebe tut dem Mitmenschen nichts Böses an." (Römer 13. 10). "Vergeltet niemand Böses mit Bösem…Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es heißt in der Schrift: "Das Unrecht zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben". Mehr noch: "Wenn den Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Ein solches Verhalten wird ihn zutiefst beschämen." Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege Böses mit Gutem". (Römer 12, 17-21)

Demzufolge ist Feindesliebe Ausdruck des Anspruchs des Christentums, vollkommen zu sein in der Liebe und damit unabhängig von der Liebe, beziehungsweise sogar von dem Wohlwollen, des Gegenübers. Man kann auch sagen: Feindesliebe ist ein individuelles und soziales Verhalten, das Feindschaft und Hass durch Wohltaten für Feinde und den Verzicht auf Rache und Gewalt an ihnen zu überwinden sucht. Jesus verdeutlicht dieses Gebot in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Das heißt: Der aus jüdischer Perspektive feindliche Samariter hilft einem Opfer der "Gegenseite", trotz des Risikos, entdeckt und bestraft zu werden. (vgl. Lukas 10, 30-36)

 

Nächstenliebe, Feindesliebe und Krieg

Wenn man die bisherige Geschichte der Menschheit betrachtet, wird schnell deutlich, dass Jesus mit den Geboten der Nächstenliebe auch gegenüber Fremden und vor allem der Feindesliebe Standards für das zwischenmenschliche Verhalten aufgestellt hat, an denen viele Menschen scheitern. Insbesondere Konflikte zwischen Staaten führen – wie wir jetzt wieder erleben - sehr oft zu Krieg und damit zu einem Zustand, bei dem Werte wie Mitmenschlichkeit, Mitleid oder Rücksicht nicht mehr generell gelten, sondern nur noch für die eigenen Staatsangehörigen. 

 Im Krieg gibt es scheinbar für das gegnerische Gegenüber nicht mehr das geringste Mitgefühl, sondern es wird sogar der Versuch unternommen, dem Gegenüber den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Das heißt: Krieg ist immer gleichbedeutend mit dem Einsatz roher, oft brutalster Gewalt. Im Krieg sind alle Formen des zivilisierten Umgangs miteinander außer Kraft gesetzt.

 Man kann auch sagen: Krieg ist der sanktionierte Gebrauch tödlicher Waffen durch die Angehörigen einer Wir-Gruppe gegen die Angehörigen einer Fremdgruppe. Auch das sechste Gebot, das da lautet: "Du sollst nicht töten!", gilt also in Kriegszeiten nur noch für die Mitglieder der Wir-Gruppe, während den Angehörigen der Fremdgruppe, die man als feindselig betrachtet, regelrecht das Menschsein abgesprochen wird und sie als "Wesen" betrachtet werden, die man ohne Weiteres töten darf. Demzufolge können im Krieg die innerhalb der eigenen Gruppe gepflegten Gewohnheiten der Kooperation und gegenseitigen Hilfsbereitschaft mit der rücksichtslosen Ausrottung von Angehörigen einer Fremdgruppe in Einklang gebracht werden. Es gilt sogar als verdienstvoll, unter Einsatz des eigenen Lebens Angehörige einer Fremdgruppe umzubringen. 

Die Frage nach den Gründen für Kriege

Sind also Krieg, Nächstenliebe oder gar Feindesliebe unüberbrückbare Gegensätze? Zunächst müsste man hier nach den Gründen für Kriege fragen. Es wird als eher fragwürdig betrachtet, wenn Kriege geführt werden, um dem eigenen Besitzstand neue Territorien oder Bevölkerungsgruppen einzugliedern – wie es jetzt Russland vorgeworfen wird - oder um innere Unruhen, die eine Bedrohung für die Machthaber sind, auf äußere Feinde abzulenken, oder um neue Nahrungsquellen sowie Bodenschätze zu erobern, oder um einen Markt für Waffenfabrikanten zu schaffen.

Demgegenüber gelten Kriege bei vielen Menschen dann als legitim, wenn sie geführt werden, um Angriffe von Aggressoren abzuwehren, oder um Selbstbestimmung und Befreiung von Unterdrückung zu bewirken. Man spricht hier auch von "gerechten Kriegen". Dabei handelt es sich scheinbar um Kriege, die selbst von Mitgefühl und Nächstenliebe motiviert sind. Bei der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression scheint es sich um einen solchen "gerechten Krieg" zu handeln. Aber auch hier gilt natürlich das Gesetz des Krieges, wonach der Gegner ungestraft ermordet werden kann.

Selbstgerechtigkeit und Mangel an Selbstkritik

Auch sogenannte gerechte Kriege sind also mit dem Gebot der Nächstenliebe und der Feindesliebe nicht zu vereinbaren, und zwar vor allem dann nicht, wenn ein angegriffenes Land "es dem Aggressor mit gleicher Münze heimzahlen will" und damit gegen das Gebot Gottes, sich nicht selbst für erlittenes Unrecht rächen zu wollen, verstößt. Ferner führt in diesem Fall auch ein sogenannter gerechter Krieg - wie wiederum der Ukrainekrieg zeigt - zu enormen Verlusten bei den eigenen sowie bei den gegnerischen Streitkräften und zu einer massiven Verwüstung des angegriffenen und sich verteidigenden Landes.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass hinter der Selbstverteidigung mit brachialen Mitteln eine Haltung steckt, die man wiederum kritisch hinterfragen könnte. Darüber gibt eine weitere Bibelstelle Auskunft. So wird Jesus in Matthäus 7, 1-5 wie folgt zitiert: "Verurteilt niemand, damit auch ihr nicht verurteilt werdet. Denn so, wie ihr über andere urteilt, werdet ihr selbst beurteilt werden, und mit dem Maß, das ihr bei anderen anlegt, werdet ihr selbst gemessen werden. Wie kommt es, dass du den Splitter im Auge deines Bruders siehst, aber den Balken in deinem eigenen Auge nicht bemerkst? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: "Halt still! Ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen" – und dabei sitzt ein Balken in deinem eigenen Auge? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge; dann wirst du klar sehen und kannst den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehen."

Meiner Meinung nach warnt Jesus mit diesen Äußerungen vor Selbstgerechtigkeit und einem Mangel an Selbstkritik, und er fordert dazu auf, mit dem Gegner immer wieder die Verständigung zu suchen. Man könnte auch sagen: Wer sich von einem anderen zu Unrecht attackiert fühlt, sollte zunächst einmal überlegen, ob er nicht selbst zu dieser Attacke Anlass gegeben hat oder nicht zumindest eine Mitschuld trägt. Jesus fordert hier mit anderen Worten dazu auf, den Kreislauf immer neuer gegenseitiger Vorwürfe zu durchbrechen.

Es hatte ja auch kurz nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine bereits Gespräche zwischen Russen und Ukrainern zur Beendigung des Krieges gegeben. Diese wurden dann aber ergebnislos abgebrochen, und seitdem ist der Krieg immer weiter eskaliert. Meines Erachtens wäre es auf Seiten der Ukraine auch ein Gebot der Vernunft gewesen, sich nicht mit einem übermächtigen Gegner auf einen "richtigen Krieg" einzulassen. Denn es gibt genügend Beispiele dafür, dass sich überfallene Völker auch durch Strategien der Selbstverteidigung unterhalb der Schwelle des großen Krieges erfolgreich gegen Aggressoren zur Wehr setzen können.

Guerilla- bzw. Partisanenkrieg und Pazifismus

Zunächst ist hier an den Guerilla- bzw. Partisanenkrieg zu erinnern, durch den Josip Broz, genannt Tito, der spätere langjährige Präsident Jugoslawiens, die deutschen und italienischen Besatzer aus Jugoslawien vertrieben hat. Auch der erfolgreiche Kampf der Vietkong in Vietnam gegen die Weltmacht USA erfolgte mit den Mitteln des Guerilla- bzw. Partisanenkrieges. Auch beim Guerilla- bzw. Partisanenkrieg handelt es sich also um einen Krieg, aber es gibt hier nicht das wahllose und massenhafte Töten der jeweiligen "Feinde" und die Verwüstung ganzer Landstriche.

Oft belächelt wird eine Haltung gegenüber aggressiven Gegnern, die als Pazifismus umschrieben wird. Mit Pazifismus ist nämlich eine Einstellung gemeint, die jegliche Form von Gewalt und kriegerischen Handlungen ablehnt. Selbst wenn ein Staat angegriffen wird, soll er sich nicht mit militärischen Mitteln verteidigen, also auch nicht mit den Mitteln des Guerilla- bzw. Partisanenkrieges. Dass man mit einer solchen Haltung – mit der man meiner Meinung nach den Geboten der Nächstenliebe und der Feindesliebe wirklich gerecht wird - auch scheinbar übermächtige Gegner bezwingen kann, zeigt das Beispiel Mahatma Gandis, der für die Unabhängigkeit Indiens vom damaligen britischen Weltreich gekämpft und mit gewaltlosem Widerstand, also mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams, erreicht hat, dass die Briten letztlich das Land in die Unabhängigkeit entlassen haben, weil sie keine Antwort auf den gewaltlosen Widerstand der indischen Bevölkerung gefunden hatten.

Fazit

Angesichts der düsteren Aussichten für die Ukraine selbst, aber auch für die Menschheit insgesamt, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, kann man nur hoffen, dass irgendwann wahr wird, was Jesaja im Alten Testament prophezeit hat: Der Herr "wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen." (Jesaja 2,4)

Autor seit 11 Jahren
163 Seiten
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