Totempfähle erzählen Geschichten (Bild: Francisco Anzola)

Viele Totempfähle wurden von den Weißen gestohlen oder zerstört

Den höchsten Grad der maskenhaften Stilisierung erreichten die Haida-Indianer. Auf ihren Reliefs sind weder einzelne Tierarten voneinander, noch tierische von menschlichen Wesen zu unterscheiden. Vermutlich drückt sich hierin etwas von der Philosophie der Küstenbewohner aus, wonach Tiere verschiedene Erscheinungsformen annehmen konnten. Sie verwandelten sich in menschliche oder übernatürliche Wesen, um phantastische Taten zu vollbringen. Ihre Seelen waren unsterblich und wurden nach dem Tod wiedergeboren. In der Intelligenz waren sie dem Menschen gleichrangig, sie übertrafen ihn jedoch in den Fähigkeiten, die sie als Tier-Art auszeichnete.

Viele Legenden, die in die Totempfähle geschnitzt wurden, sind in Vergessenheit geraten, weil die Kultur, die sie hervorgebracht hat, schon vor Jahrzehnten zerbrach. Die meisten derjenigen Pfähle, die nicht von den Weißen zerstört oder gestohlen wurden, sind inzwischen vermodert. Eine Geschichte lebt allerdings in dem silbrig-verwitterten Totempfahl fort, der im Provincial Museum von Victoria zu sehen ist. Er zeigt das Gesicht eines Häuptlings. Aus seinen Augen ergießen sich dicke Tränenströme über zwei kleine Menschenköpfe zu seinen Füßen. Die Hände umklammern einen großen Frosch, den er an seine Brust drückt.

Die Enkel des Häuptlings warfen Frösche ins Feuer

Die Schnitzerei erzählt die Geschichte des alten, immer lachenden Häuptlings der Haida-Indianer. Eines Tages ruderte er von den Queen Charlotte Islands mit sieben Söhnen und zwei Enkeln zu dem Eiland Tanoo, um zu jagen. Während sich die Erwachsenen im Wald zerstreuten, entfachten die Enkel ein Feuer. Unter dem Treibholz fanden sie einen Frosch und warfen ihn in die Flammen. Er blähte sich in der Hitze auf und platzte. Fasziniert wiederholten sie das Spiel.

Als der Häuptling dies entdeckte, befahl er den Kindern, sofort damit aufzuhören. Doch es war schon zu spät. Noch ehe sie die Boote erreichten, wurde die Küste von einem Erdbeben erschüttert. Eine Spalte tat sich auf und riss die Indianer in die Tiefe. Nur der Häuptling überlebte das Unglück. Aus dem lachenden Mann wurde ein weinender Häuptling, der lebenslang die Untaten seiner Enkel beklagte.

Das Bild des weinenden Indianers scheint sinnbildlich für eine Welt zu stehen, die immer mehr zerstört wird. Eine Welt, in der einstmals Menschen und Tiere gleichberechtigt nebeneinander lebten, die Zerstörung einer Welt, in der die Menschen keine Beherrscher waren, sondern Mitglieder eines natürlichen Gefüges. Die Indianer wussten, dass man für alles, was man der Natur nimmt, etwas zurückgeben muss. Wer nur nimmt und nichts gibt, betreibt Raubbau an der Erde, der nicht ungesühnt bleiben wird. Obwohl dieses Wissen schon uralt ist, scheint es doch erst seit einigen Jahrzehnten in das Bewusstsein des Menschen vorzudringen.

BerndT, am 01.03.2014
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Bildquelle:
Daniela Roth (Indianische Tiertotems - Der Lachs)
twistedravens (Indianische Tiertotems - Der Rabe)
tpsdave (Indianische Tiertotems - Der Wal)
tpsdave (Indianische Tiertotems - Der Wolf)

Autor seit 13 Jahren
369 Seiten
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