Fallbeispiel: Der bürokratische Hindernislauf um Inkontinenz-Einlagen

Jeden Monat beginnt für Ernst Müller, (Name von der Redaktion geändert) einem 80-Prozent-körperlich schwerbehinderte Rollstuhlfahrer mit Blasenschwäche, der bürokratische Hindernislauf um seine Einlagen. Diese saugstarken Vorlagen, ähnlich wie Monatsbinden für Frauen oder Windeln für Kinder, in unterschiedlichen Stärken für normale bis starke Inkontinenz, für Frauen und Männern erhältlich, sind für seinen Alltag unverzichtbar.

Da er das Haus aus unabänderlichen baulichen Beschränkungen nicht selbstständig verlassen kann, beauftragt er einen örtlichen Pflegedienst, seine Gesundheitskarte einzulesen zu lassen und das Rezept in der Praxis abzuholen. Die erste Hürde der Rezeptbeschaffung ist dabei nur der Auftakt zu weiteren bürokratischen Stolpersteinen. 

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Paradoxe Rezeptherausforderungen: Ausstellung nur zum Monatsende

Das Rezept darf in der Praxis, so wird informiert, ausschließlich zum Monatsende ausgestellt werden und nur dann, wenn der Arzt persönlich anwesend und die Verordnung abgesegnet hat. Anschließend akzeptiert das Sanitätshaus die Verordnung, die es ausschließlich per Fax oder durch persönlicher Übergabe, in Papierform erhält und akzeptiert. Verzögerungen und Reibungsverluste sind damit vorprogrammiert. In kleineren Städten können zwischenmenschliche Antipathien den Prozess zusätzlich blockieren. Ist das Rezept endlich ausgestellt, wartet bereits der nächste Flaschenhals im Versandprozess.

Fax- und Antipathie-Falle: Wie Verordnungen ins Stocken geraten

Die fehlende digitale Anbindung zwischen Praxis und Sanitätshaus macht jeden Schritt mühselig. Faxgeräte sind unzuverlässig, Rückfragen per Telefon verlaufen ins Leeren, wenn Leitungen dauerhaft besetzt oder Büros eben unbesetzt sind. Persönliche Sympathien oder Antipathien können dazu führen, dass ein schlecht gelaunter Mitarbeiter eine Bestellung bewusst verzögert, zum direkten Nachteil des Patienten. Solche Reibungsverluste reißen gefährliche Lücken, besonders in ungünstigen Zeitfenstern. Foto: Pixabay

Versorgungslücken vor Feiertagen und Wochenenden

Vor Feiertagen, Wochenenden und in Urlaubszeiten sind Fax- und Telefonketten überlastet oder unterbrochen. Dann droht dem Patienten eine lückenhafte Versorgung mit seinen Einlagen, was zusätzlich erfahrungsgemäß, Infektionsrisiken nach sich ziehen kann. Jeder Tag ohne Vorlagen verschärft seine Mobilitätseinschränkungen und mindert die Lebensqualität erheblich.

Kein Einzelfall: Digitale Versorgungslücken sind systemisch

Der geschilderte Fall steht exemplarisch für eine strukturelle Versorgungslücke. Viele Sanitätshäuser steuern erst in den kommenden Jahren auf eine digitale Anbindung zu. Laut Branchenumfrage wünschen sich aktuell nur 41 Prozent der Hilfsmittelleistungserbringer eine eRezept-Anbindung, die Mehrheit plant den Roll-out erst in zwei bis drei Jahren.

Digitale Brücken statt Versorgungslücken

Noch ist die Telematikinfrastruktur nicht flächendeckend ausgerollt, doch das heißt nicht, dass Patient:innen weiter auf Fax und persönliche Übergaben angewiesen sein müssen. Mehrere digitale Zwischenlösungen sind bereits im Einsatz und bieten konkrete Entlastung. Fünf Modelle zeigen, wie Praxen und Sanitätshäuser schon heute Versorgung sichern können:

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  1. PDF-E-Rezept per KIM oder E-Mail Praxissysteme exportieren signierte E-Rezepte als PDF und senden sie über den KIM-Dienst oder ein sicheres E-Mail-Gateway direkt ans Sanitätshaus. Der Faxweg entfällt, die Verordnungsdaten liegen sofort digital vor.
  2. Webportal-Anbindung über gesund.de & Co. Verbundgruppen wie rehaVital, CURA-SAN und ORTHEGROH bieten eigene Online-Portale: Praxen laden dort Verordnungen hoch, Sanitätshäuser greifen über geschützte Logins zu und bestätigen Verfügbarkeit und Lieferzeiten.Digitaler Fax-Workflow mit OCR/EDI Statt Papierfax kommt ein cloudbasierter Faxdienst zum Einsatz, der eingehende Verordnungen automatisch in strukturierte Daten umwandelt und direkt ins Sanitätshaus-ERP überträgt.
  3. Miet-Konnektor & KIM-Light Gematik-zertifizierte mobile Konnektoren auf Mietbasis ermöglichen Praxen bereits vor Vollausbau der TI den sicheren Dokumentenaustausch. In Kombination mit einfachen KIM-Clients ("KIM-Light") entsteht ein praktikabler Kommunikationsweg.
  4. Regionale FHIR-Pilotprojekte: In Bundesländern, wie Berlin-Brandenburg, testen Arztpraxen und Sanitätshäuser den Live-Austausch von Patientenstammdaten und Verordnungen über FHIR-Schnittstellen – ein wichtiger Schritt hin zu skalierbaren TI-Anbindungen.

Diese Zwischenlösungen zeigen: Digitalisierung muss nicht warten, sie kann heute schon Versorgung sichern und bürokratische Hürden abbauen. Zwar haben mit gesund.de und starken Verbundgruppen wie rehaVital, ORTHEGROH und CURA-SAN bereits über 50 Prozent der Sanitätshäuser erste digitale Bestellprozesse getestet, doch die flächendeckende Anbindung an Telematikinfrastruktur, Software und Datenschutzvorgaben erfordert erfahrungsgemäß meist 12–24 Monate Vorlaufzeit. Hinzu kommt: Ab Juli 2027 wird mit der elektronischen Verordnung (eVO) ein verpflichtender Standard eingeführt. Aktuell bewerten 51 Prozent der Leistungserbringer ihren Digitalisierungsstand als mittelmäßig, 42 Prozent sogar als unzureichend. Das zeigt: Systemtests, Schulungen und Prozessanpassungen sind dringend nötig und Zeit ist ein kritischer Faktor.

Fehlanzeige bei digitalen Versorgungsstopps: Wo Beschwerden ins Leere laufen

Digitale Kommunikationsausfälle zwischen Arztpraxen, Apotheken und Sanitätshäusern können die Versorgung akut gefährden, doch eine zentrale Beschwerdestelle, die sich ausschließlich um solche Fälle kümmert, existiert bislang nicht. Patient:innen stehen bei eRezept-Störungen oder TI-Ausfällen vor einem Flickenteppich an Zuständigkeiten, ohne dass eine Stelle unmittelbar eingreift.

Zwar gibt es verschiedene Anlaufstellen für Beschwerden:

  • Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD): Berät kostenfrei zu Gesundheits- und Versorgungsfragen.
  • Kassenärztliche Vereinigungen und Landesärztekammern: Vermitteln bei Pflichtverletzungen von Vertragsärzt:innen.
  • Kranken- und Pflegekassen: Bieten zentrales Beschwerdemanagement und fungieren als Ombudsstelle für Versicherte.
  • gematik-Servicecenter: Nimmt technische Störungsmeldungen zur Telematikinfrastruktur entgegen – ist jedoch keine unabhängige Schlichtungsstelle und kann akute Versorgungslücken nicht beheben.

Ein Beispiel für strukturelle Bemühungen ist die zentrale Beschwerdestelle der gesetzlichen Krankenkassen. Versicherte können dort über Hotline oder Online-Formular Probleme mit Leistung und Service melden, ohne von Abteilung zu Abteilung weitergereicht zu werden. Beschwerden gelten als Feedback zur Prozessoptimierung. Doch in der Praxis bleibt die digitale Hürde hoch: Die Website bietet ein Ranking der teilnehmenden Kassen. Für digital wenig erfahrene Nutzer:innen oft eine unüberwindbare Barriere.

Fazit: Das Gesundheitssystem kennt viele Beschwerdewege, hingegen keine schnelle, spezialisierte Instanz für digitale Versorgungsstopps. Wer akut betroffen ist, bleibt häufig auf sich gestellt. Dieser Bericht will ein hilfreicher Denkanstoß sein: für eine zukunftsfähige, niedrigschwellige und digital kompetente Beschwerdekultur.

Zwischen Missverständnis und Systemlücke: Was Patient:innen erleben

Am 7.10.2025 wurde im Sanitätshaus bekannt, dass der schwerbehinderte Patient Ernst Müller aufgrund eines Missverständnisses in der Arztpraxis kein Rezept und damit keine Einlagen erhalten konnte. Der Fehler lag in der Verwechslung von Hilfsmitteln (Krankenkassenleistung, rezeptpflichtig) und Pflegehilfsmitteln (Pflegekassenleistung, rezeptfrei bei Pflegegrad). Inkontinenzeinlagen zählen in der Regel zu den Pflegehilfsmitteln zum Verbrauch und können bei anerkanntem Pflegegrad direkt über die Pflegekasse bezogen werden, ohne ärztliches Rezept. Dennoch kam es zu einem Versorgungsstopp, der durch fehlende Klarheit und Kommunikation zwischen Praxis und Sanitätshaus ausgelöst wurde. Eine Reaktion auf den Bericht blieb bisher aus. Internetnutzer empfahlen dem Patienten, künftig auf Online-Shops auszuweichen.

Pflegehilfsmittel ohne Rezept – so funktioniert's

Ernst Müller, 78 Jahre alt, besitzt einen Schwerbehindertenausweis und ist in Pflegegrad 2 eingestuft. Monatlich benötigt er Inkontinenzeinlagen, um seinen Alltag würdevoll zu bewältigen. Viele denken, dafür sei ein ärztliches Rezept nötig – doch das stimmt nicht.
Da Herr Müller einen anerkannten Pflegegrad hat, gelten die Einlagen als Pflegehilfsmittel zum Verbrauch. Sie können direkt über die Pflegekasse bezogen werden ohne Rezept. Die Pflegekasse übernimmt bis zu 40 € monatlich, oft über Dienstleister, die sogenannte Pflegeboxen versenden. Ein einfacher Antrag genügt, und die Versorgung kann regelmäßig und diskret erfolgen.

Dieses Beispiel zeigt: Wer die Unterschiede zwischen Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel kennt, kann bürokratische Hürden vermeiden nd Patient:innen gezielt unterstützen.

Ausblick: Digitalisierung, die wirklich ankommt

Was für den Patienten ein monatlicher Kraftakt bleibt, gilt politisch als gelöst. Laut Zwischenbericht des Bundesgesundheitsministeriums befindet sich die Digitalisierungsstrategie "Gemeinsam Digital" bereits zu über 90 Prozent in der Umsetzung. E-Rezept und elektronische Patientenakte gelten als neue Standards, DiGA-Angebote wachsen, Telemedizin wird integriert. Doch die Realität zeigt: Der digitale Fortschritt kommt nicht überall an. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert gezielte Investitionen statt Sanktionen. Digitale Allianzen im Hilfsmittelmarkt gewinnen an Dynamikdoch der Weg zur flächendeckenden Versorgung bleibt steinig. Bitkom-Erhebungen bestätigen: Drei Viertel der Praxen empfinden das Digitalisierungstempo als zu langsam, Komplexität als größtes Hindernis.

Die vollständige Integration von E-Rezept, elektronischer Patientenakte und Telematikinfrastruktur bis 2027 kann den bürokratischen Hindernislauf beenden. Ein abgestufter Rollout, kombiniert mit finanziellen Anreizen und Schulungsprogrammen, schafft Transparenz und Vertrauen bei Leistungserbringern. Was heute noch als Ausnahme gilt, muss zur Regel werden, damit digitale Versorgung nicht nur versprochen, sondern auch erlebt wird.

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Wie passen Digitalisierung und Gesundheit zusammen?

Die letzte Meile fehlt: Warum Menschen wie Ernst Müller zurückbleiben

Die Strategie "Gemeinsam Digital" mag auf dem Papier zu über 90 Prozent umgesetzt sein, doch für Menschen wie Ernst Müller bleibt sie eine ferne Vision. Während Ministerien Fortschritte bilanzieren, kämpft er Monat für Monat mit einem bürokratischen Hindernislauf, der sich durch Faxgeräte, persönliche Übergaben und fehlende Schnittstellen zieht. Seine Realität steht stellvertretend für viele: Die digitale Versorgung kommt nicht dort an, wo sie gebraucht wird. Und solange technische Lösungen nicht mit menschlicher Nähe verbunden sind, bleibt die Versorgung lückenhaft, trotz aller politischen Versprechen.

Ernst Müller bleibt zurück. Er braucht keine Strategie, sondern eine Lösung. Digitalisierung darf nicht nur versprechen, sie muss erreichen. Wer Versorgung ernst meint, baut Brücken, nicht Bürokratie. Keine Ausrede zählt. Jetzt ist Verantwortung gefragt.

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