Dörte Hansen: "Mittagsstunde". Kritik
Ein nordfriesisches Dorf wird durch eine Flurbereinigung gänzlich modernisiert und umgekrempelt. Windräder statt kleine Bauernfelder. Die Einheimischen werden von der Zeit überholt.
© Penguin Verlag
Bulldozer und Bagger zerstören ein Dorf
Fast 40 Jahre umspannt der Roman, er setzt 1965 ein und endet in den frühen 2010er-Jahren. Dörte Hansen hat ein Faible für Zeitsprünge, sie wechselt oft unvermittelt die Zeitebenen und widmet den Zwischenphasen, etwa dem Mauerfall oder dem Jahr 2000, wenig bis keine Aufmerksamkeit. Der Leser muss mitunter vorsichtig sein, dass er nicht in die Irre geht und die Ereignisse zeitlich falsch einordnet. Etwas ärgerlich ist die häufige Verwendung von Platt. Gut, dieser Dialekt gehört zum Lokalkolorit und ist auch teilweise unabdingbar, doch die Autorin übertreibt es ein bisschen. Viele Sonderlinge scheint es in dieser fragwürdigen ländlichen Idylle zu geben, Außenseiter, die aber auch zur Gemeinschaft gehören und hingenommen werden wie eine alte Eiche, die, wie so vieles, durch die Modernisierer mit ihren neuartigen Maschinen (Planierraupen und Bagger) platt gemacht wird. Flora und Fauna werden gleichsam niedergewalzt, quasi mit einem Betonguss überzogen für Windräder, Solaranlagen und Truppenübungsplätze. Sönkes Tochter Marret, seit jeher eine wunderliche Eigenbrötlerin, zu ungeschickt für häusliche Tätigkeiten wie Kartoffel schälen, streift singend durch die Büsche, als sie noch vorhanden waren - Marret ist irgendwo zwischen Normalität und Verrücktheit anzusiedeln. Ein Wunder bei der geistigen Grenzgängerin, dass Ingwer ohne genetischen Schaden davongekommen ist. Der wohnt in einer Kieler Wohngemeinschaft zusammen mit der Halbpartnerin Ragnhild und Claudius, sie bilden zusammen mit ihren Freundinnen und Freunden einen unbürgerlichen Haufen, der immer noch eine Art bohemehafter Ungebundenheit präferiert. Schade nur, dass Hansen, die bei dieser Truppe einen teilweise zurückgehaltenen boshaften Humor gebraucht, viel zu wenig darüber Bericht erstattet, auch über das Unileben von Ingwer.
Viel skurrile Personen
Gegen Ende ist Opa Sönke neunzig, bei seiner Gattin Ella, die ihn immer wieder zwickt und boxt, bricht sich allmählich die Altersdemenz Bahn. Ingwer hat einen einjährigen Sonderurlaub bekommen (Sabattical) und kümmert sich um seine Großeltern, die längst zu Pflegefällen geworden sind. Seitenweise wird geschildert, wie akribisch Ingwer seinen Opa wäscht – auf derartige Redundanzen hätte die Autorin auch verzichten können. Immerhin, in der Beschreibung von skurrilen Personen ist Hansen ein Talent ungewöhnlichen Ranges. Da ist der Heimatkunde-Lehrer Steensen, der auch vor dem Rohrstock nicht zurückschreckt, aber den Kindern und Jugendlichen eine gute Ausbildung garantieren möchte und sich maßlos über die Dummen und Unverbesserlichen ärgert. Ein Sonderfall ist die Schülerin Gönke, die, als Kind aufsässig und herumplärrend, in juvenilen Jahren von einem Lesewahn befallen ist, Wissen in sich aufsagt, und dann, linksideologisch ergriffen, für immer das Weite sucht. Heiko, ebenfalls ein seltsamer Kauz, ist ein billig amerikanisierter Cowboy-Fan, der bei den Feierlichkeiten ins Sönke Kneipe mit seiner Band die Musik beisteuert. Die 70er- und 80er-Jahre, das ist die Zeit der Landkommunen. Während sich die Aussteiger mit ihren Kindern im angeblich unverfälschten Landleben niederlassen, um zu Natur und ursprünglicher Lebensweise zurückzukehren, wird um sie herum modernisiert und auf neu getrimmt. Der Tante-Emma-Laden in Brinkebüll verschwindet, die Leute fahren jetzt mit dem Auto in den nächsten Ort zu Aldi und kommen mit vollgeladenem Kofferraum zurück. Kaum sind die Jugendlichen achtzehn, fahren sie mit dem Wagen ihrer Eltern in überzackigem Tempo zur nächstgelegenen Disco – einige kehren verletzt zurück, andere gar nicht mehr. Die spärlichen Geschäfte schließen, auch gibt es den Frühschoppen bei Sönke nicht mehr. Angesichts des gewaltigen Durstes der Bewohner*innen wundert man sich, dass keine Alkoholiker*innen aus ihnen hervorgegangen sind. Insgesamt entfaltet die nordfriesische Schriftstellerin ein umfassendes Dorfpanorama, man merkt mit jeder Zeile, dass sie sich gut auskennt. Es mag komisch anmuten: Man liest viel über Ingwer und hat von ihm doch kein genaues Bild mit festen Konturen. Ein gelungener Roman mit einigen Schwächen.
Dörte Hansen: Mittagsstunde. München 2018, Penguin Verlag. 319 Seiten.
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)