Der Traum

Als ich gerade 7 oder 8 Jahre alt war erzählte mir Oma die merkwürdige Geschichte zweier alter Frauen, die vor langer Zeit in unserem Haus gewohnt hatten. Die beiden waren wirklich schon uralt, mindestens 100 Jahre, glaubte ich damals, und sie waren schon längst gestorben, bevor ich zur Welt kam. Die eine hieß Elenor, die andere Luise. Sie waren beide unverheiratet und hatten keine Kinder. Die beiden Frauen wohnten ihr ganzes Leben lang in diesem Haus, als Baby, als kleine Mädchen, als junge Frauen und auch noch, als sie schon längst Omas waren. Mir war das unheimlich und ich fand es traurig, dass die beiden keine Kinder hatten und irgendwann einfach gestorben sind, gerade so, als hätten sie nie gelebt.

Ich suchte also nach einer Erklärung – und fand sie auch:

Elenor und Luise waren nämlich einst sehr glücklich und sie waren beide in denselben Jungen verliebt. Auch der Junge liebte Elenor und Luise sehr.

Oma erklärte mir, dass ein Junge oder Mann nicht zwei Frauen zugleich haben kann und weil das nicht sein durfte und die strengen Eltern dagegen waren, stürzte sich der Junge eines Nachts voller Kummer in den trüben Bergsee nahe beim Dorf und ertrank.

Elenor und Luise wurden sehr traurig, blieben alleine, lebten in ihren Erinnerungen und wurden dabei uralt.

Eines Nachts träumte ich von den beiden Unglücklichen. Aber in meinem Traum waren sie ganz jung und sahen einfach toll aus, zwei Mädchen, die meiner (heimlichen) Freundin verblüffend ähnlich waren. Sie saßen mit mir bei Oma am Küchentisch. Oma kochte Kakao und schaufelte uns Kuchen auf die Teller. Ich war überglücklich, dass Elenor und Luise bei mir waren und dass es ihnen gut ging. Doch dann …

Ich sah Elenors Hände und war so furchtbar erschrocken, dass ich keinen Ton herausbrachte: Ihre Hände zitterten, waren grau und faltig, hatten lange dünne Finger und ganz merkwürdige Fingernägel. Auch sah ich dunklen Schorf – Elenor musste sich irgendwo verletzt haben! Das Mädchen hatte die Hände einer sehr alten, vielleicht sogar einer TOTEN Frau!

Elenor begann zu weinen, weil sie sich dafür schämte und ihr die Hände weh taten, doch als ich sie trösten wollte verschwanden die beiden Mädchen in einem Nebel und ich wachte auf …

Lange konnte ich diesen Traum nicht vergessen und ich begann, nach Elenor und Luise zu suchen…

Das dunkle Fenster

Unser Haus hatte einen finsteren Keller, der nur von einer schwachen Glühlampe beleuchtet wurde. Im Keller wurden Kartoffeln, Obst, Gemüse, Konserven und verschiedene Kräuter aufbewahrt. In der hinteren Wand, der dunkelsten Stelle im Keller, befand sich eine Nische. Es sah aus, als wäre dort früher ein Fenster gewesen. Aber es war zugemauert worden – man konnte nicht mehr hindurch schauen.

Nach meinem Traum glaubte ich fest daran, dass es Elenor und Luise wirklich gibt und dass sie sich irgendwo versteckt haben oder noch schlimmer, dass sie vielleicht sogar eingesperrt sind!

Natürlich! Jetzt hatte ich verstanden! Hinter dem geheimnisvollen Kellerfenster musste es noch ein Zimmer geben – und nun endlich wusste ich, wohin Elenor und Luise verschwunden sind.

Da ich das merkwürdige Fenster nicht öffnen konnte, legte ich Brot, Kartoffeln, Möhren, Äpfel und sogar eine Tafel Schokolade davor und stellte auch Konserven und eine (aus Omas Schrank stibitzte) Flasche Wein dazu – falls die beiden vielleicht doch schon erwachsen sind.

In der folgenden Nacht hörte ich Geräusche. Ich glaubte, ein Kind weinen oder rufen zu hören, dann wieder hörte es sich so an, als ob ein Glas zerschellt. Mein Zimmer lag genau über dem Keller. Mit zitternden Knien und einer Taschenlampe ging ich zur Kellertür und lauschte. Nichts. Ich hatte Angst, die Tür zu öffnen und wartete lieber davor, ob sich drinnen etwas tut. Es passierte nichts – außer, dass mir kalt wurde und die Taschenlampe allmählich den Geist aufgab.

Hinter der Kellertür herrschte Totenstille.

Ich ging wieder zu Bett. Am nächsten Morgen sah ich nach - - - und war wie versteinert:

Es war alles weg! Brot, Kartoffeln, Wein, Schokolade, Äpfel – alles weg! Elenor und Luise hatten sich die leckeren Sachen geholt! Am Boden jedoch lag ein winziges Geldstück, eine uralte, kleine Münze – über 100 Jahre alt, wie Papa mir erklärte. Wo ich sie her hatte verriet ich ihm nicht.

Ein paar Tage später versuchte ich es noch einmal: Nun legte ich zwei kleine Kuscheltiere dazu – und wieder waren Brot, Äpfel, Schokolade, Wein und Kartoffeln weg. Auch die Plüschtiere hatten Elenor und Luise mitgenommen. Geld fand ich diesmal nicht. Aber das war mir egal, denn Elenor und Luise waren doch sicher sehr arm und hatten nicht so viel Geld.

Leider hatte ich überhaupt keine Idee, wie ich die beiden Mädchen aus ihrem Gefängnis befreien könnte und so wollte ich ihnen wenigstens etwas Gutes tun. Immer wieder legte ich ihnen kleine Geschenke, Äpfel, Beeren und sogar Blumen aus unserem Garten ins Fenster …

Der gute Engel

Irgendwann merkte ich, dass die Weinflaschen in Omas Schrank gar nicht weniger wurden. Ich hatte sogar das Gefühl, dass der Wein ein oder zwei Tage später wieder genau an dem Platz stand, von wo ich ihn "geklaut" hatte und jedes Mal nach einer solchen Nacht gab's bei Oma Apfelkuchen.

Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu!

Heute weiß ich, was damals wirklich geschah. Ein guter Engel wollte den Traum eines kleinen Jungen nicht kaputt machen. Der Engel hat all die leckeren Sachen wieder an ihren Platz geräumt und dafür das kleine Geldstück auf den Boden gelegt.

Der gute Engel war meine Oma, die leider schon gestorben ist.

Hinter dem "unheimlichen Fenster" war gar nichts, kein versteckter Raum, nur Fels und Gestein.

War alles doch nur ein Traum, Elenor, Luise, das Zimmer hinter der dicken Wand?

Ich war enttäuscht, doch ich konnte ja nicht ahnen, dass die Geschichte noch weiter geht: 

Eine seltsame Entdeckung

Viele Jahre später, ich war längst erwachsen, stand ich wieder vor jenem dunklen Fenster, durch das niemand hindurchschauen kann. Schon lange hatte ich nicht mehr an Elenor und Luise gedacht. Als Erwachsener war ich mir nun ganz sicher, dass die beiden Mädchen nie wirklich gelebt und in unserem Haus gewohnt haben.

Nur Kinder glauben daran, dass Träume wahr werden können, dass hinter dicken, geheimnisvollen Mauern hübsche Mädchen einsam ihrer unglücklichen Liebe nachtrauern. Das sind doch nur Märchen, dachte ich mir und lächelte still über meinen Kindertraum von Elenor und Luise.

Doch mein Lächeln verschwand genau so schnell, wie es gekommen war, denn im gleichen Moment machte ich eine seltsame Entdeckung und spürte zugleich, dass außer mir noch jemand im Keller ist, unsichtbar, und so nahe bei mir, dass ich das leise Flüstern eines Mädchens hören und ihren warmen Atem spüren konnte.

Da! Ein Knacken, als ob jemand einen Schlüssel im Schloss herumdreht! Und tatsächlich: Zwischen den unbehauenen Steinen des Fensters steckte ein großer rostiger Schlüssel.

Nachdem ich den Schlüssel herausgezogen und genauer betrachtet hatte, wurde ich kreidebleich vor Schreck:

Auf dem Schlüssel waren kunstvoll zwei Buchstaben eingeritzt:

"E & L"!

© Mario Lichtenheldt

Bild: Rainer Sturm, www.pixelio.de

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Moritz ist ein kleiner Junge, der mit seinen Eltern und seiner Oma in einem kleinen Dorf in Thüringen lebt. Er wohnt in einem sehr alten Haus, zu dem ein Garten und eine große bunte Wiese gehören. Dahinter beginnen die Berge und Wälder.
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Autor: Mario Lichtenheldt, mit Zeichnungen von Ariane Kukla, HolzheimerVerlag, 2010
ISBN-10: 3938297859, ISBN-13: 978-3938297858
22,80 EUR

 

Autor seit 13 Jahren
7 Seiten
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