Christentum und Esoterik

Christentum und Esoterik (Bild: Lisa Spreckelmeyer / pixelio.de)

Eine Frage der Perspektive

Religion ist davon abhängig, wie der Mensch sie konstruiert, welche Einstellungen und Haltungen er aus ihr entwickelt, und mit welchen Einstellungen und Haltungen er ihr begegnet. Dasselbe trifft auf die Esoterik zu. Während man beim Christentum eine ziemlich genaue Vorstellung von dem Glauben hat, ist das bei der Esoterik nicht der Fall, denn die Esoterik ist kein geschlossenes Glaubenssystem, das von einer heiligen Schrift ausgeht. Esoterik – zumindest wie sie heute definiert wird – ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche philosophische, religiöse, pseudo-religiöse und spirituelle Modelle. Das Ziel innerhalb der Esoterik ist es, "höheres Wissen" bzw. Einsicht in den Lauf der Welt zu erhalten. Der Glaube an einen persönlichen Schöpfergott ist dafür nicht notwendig. Anders jedoch im Christentum: Hier geht man von einem Schöpfergott aus, der alles geschaffen hat und seinen Sohn geopfert hat, damit jeder einzelne Mensch die Chance auf Erlösung und den Einzug in das Reich Gottes erhält.

 

Ob und inwieweit Esoterik und Christentum vereinbar sind, hängt vom Grad der gelebten Religiosität bzw. vom Grad der Achtung anderer Sichtweisen ab. Wenn Religion fundamental und radikal praktiziert wird, dann besteht wenig Raum für andere Ansichten. Der Glaube, der eigene Glaube sei der einzig wahre, versperrt den Zugang zu anderen Denkmodellen. Diese Denkmodelle werden entweder ignoriert oder mithilfe eines eigenen Maßstabs, der sich aus religiösen Grundsätzen ableiten lässt, abgelehnt. Wenn Religion aber offen verstanden wird, dann ist es möglich, unterschiedliche Weltanschauungen und Glaubenssätze miteinander weitgehend objektiv zu vergleichen und gemeinsame Wege und Ziele zu finden. Der Vorteil des "offenen Geistes" ist nicht nur der Zugewinn an Wissen und Erkenntnis, sondern auch das friedliche Miteinander, das unweigerlich aus einer offenen und freundlichen Haltung erwächst.

Wo lassen sich Gemeinsamkeiten finden?

Das Christentum geht vom Wahrheitsgehalt der Bibel aus. Dies betrifft alle Konfessionen. Wie die Bibel zu interpretieren ist und welche Prinzipien für die Gestaltung des Lebens daraus abgeleitet werden können, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Zu den grundlegenden Wahrheiten gehört jedoch der Glaube an Jesus Christus, Gottes Sohn, der geboren wurde, um für die Menschen geopfert zu werden. Durch dessen Opfertod wurde der Mensch vor Gott freigekauft und von der Sünde befreit. In der Esoterik gibt es diesen fundamentalen Glaubensinhalt nicht, was aber nicht heißt, dass es keine anderen Gemeinsamkeiten gibt, berücksichtigt man die Tatsache, dass es sich bei esoterischen Modellen und dem Christentum um mentale Konstruktionen handelt und um keine objektiven und absoluten Wahrheiten. Und selbst die Annahme einer absoluten Wahrheit wäre wieder eine mentale Konstruktion und damit der Subjektivität unterlegen.

 

Was Esoterik und Christentum verbindet, ist die die Annahme einer "unsichtbaren" Welt. Sowohl im Christentum als auch in nahezu allen esoterischen Angeboten wird von einer "höheren" Welt ausgegangen, die mit unseren Sinnen und mit unserem Verstand nicht erfasst werden kann. In der Bibel ist es das Reich Gottes, welches nur mit Metaphern und Gleichnissen beschrieben werden kann. In der Esoterik sind die Beschreibungen dieser Welt vom jeweiligen Glaubenssystem abhängig. Eine weitere Gemeinsamkeit betrifft den Glauben an eine alles umfassende Energie. Im Christentum kennt man sie als Gott, hier vor allem in der mystischen Tradition, oder als Heiliger Geist. In esoterischen Modellen kommt es auch wieder auf das jeweilige Modell an, ob vom Chi, Prana, Licht, Weltgeist oder der göttlichen Energie gesprochen wird. Weiterhin ist es den Christen und Esoterikern gemein, dass sie Einblicke in die "höhere" Welt erhalten können. Das Erkennen bestimmter Dinge, die jenseits der normalen Wahrnehmung liegen, ist sowohl im Christentum als auch in der Esoterik anerkannt.

 

In der Bibel wird dem Mensch ein Schöpfungsauftrag aufgetragen. Und auch in der Esoterik geht es immer wieder um die Aspekta der Schöpfung, Gestaltung und Kreativität. In der Kunst werden transzendente Gebilde sichtbar – bei christlichen Künstlern wie bei esoterischen. Im Christentum spielen Gebete und der unmittelbare Kontakt zum Schöpfergott eine große Rolle. In der Esoterik gibt es – je nach Richtung – ebenfalls Gebete, Zauberformeln und Riten. Die Praxis ist also dieselbe, lediglich im Inhalt und in der Ausführung gibt es Unterschiede. Alle Religionen haben die Aufgabe, dem Menschen zu einem bewussten und spirituellen Leben zu führen. Der Mensch soll seine Energie nutzen, um Gutes zu tun. Und auch in der Esoterik soll die eigene Kraft genutzt werden, um der Welt Gutes zu tun.

Welche Unterschiede gibt es?

Inhaltlich ist der größte Unterschied im Wahrheitsanspruch der Bibel zu sehen. Während Christen in der Regel einzig die in der Bibel geoffenbarte Wahrheit glauben, gibt es in der Esoterik größere Freiräume. In der Esoterik gehört es nicht zur grundlegenden Bedingung, an Jesus Christus zu glauben. Im Christentum ist dies jedoch ein zwingender Bestandteil. In der Esoterik herrschen oftmals Denkmodelle vor, die nicht strikt zwischen "Gut" und "Böse" unterscheiden. Im Christentum wird die Polarität zwischen "Gut" und "Böse" durch unverrückbare Glaubenssätze aufrechterhalten. Außerdem gibt es konkrete Handlungsanweisungen, die ein bibeltreues Leben ermöglichen sollen – dazu gehören die 10 Gebote und das Doppelgebot der Liebe.

 

Ein weiteres Unterscheidungskriterium betrifft die Struktur. Während die Esoterik eher individuelle Strukturen aufweist und am Einzelnen ausgerichtet ist, ist das Christentum eine Religion, die gemeinschaftlich ausgerichtet ist. Das wird in den beiden große Volkskirchen besonders deutlich. Esoterik ist ein nach innen gewandter Prozess, der eigene Einsichten ermöglichen soll. Das Christentum beinhaltet zwar auch diesen Aspekt, ist aber in der Mehrheit auf eine äußere Ordnung ausgerichtet, die sich in Geboten und Verboten manifestiert. Im Christentum werden darum auch vermehrt Abwehrstrategien konzipiert, um nicht dem – aus christlicher Sicht – Bösen zu verfallen.

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