Ich habe das Buch

Die Schicksalsnacht

gelesen, das 1940 unter dem Titel "Vigil In The Night" im englischsprachigen Raum erschien. Mir liegt die deutsche Ausgabe vor, die 1960 in Deutschland herauskam.
Das Buch hat 200 Seiten, eine ISBN-Nummer hat es noch nicht.

Spaziergang mit dem Buch "Die Schicksalsnacht" (Bild: @2016 by Wonderful_Life_74)

Mitreißend geschrieben

Die Geschichte packte mich, trotz des heutzutage altmodischen Stils, von Anfang an. Es geht um die junge Krankenschwester Anne Lee, die in der Intensivstation des Krankenhauses in Shereford (Großbritannien) einen zweijährigen Jungen beobachten muss, der an Kehlkopfdiphterie leidet. An ihm wurde ein Luftröhrenschnitt vorgenommen. Annes Aufgabe ist es, diesen Jungen keine Sekunde lang aus den Augen zu lassen.

Aber genau das passiert ihrer Schwester Lucy, ebenfalls Krankenschwester, die Anne Lee nach deren Schicht im Krankenhaus ablöst. Lucy verschwindet nur einige Minuten aus dem Krankenzimmer, um sich eine Tasse Tee zu holen. Während dieses Zeitraums gerät ein Diphterieklumpen in den Hals des kleinen Patienten. Es gelingt ihm nicht, den Klumpen abzuhusten – er erstickt daran.

Als Lucy wederkommt, ist der Kleine gestorben. Anne Lee, die noch in Reichweite war, versucht, das Leben des Kindes zu retten – aber vergeblich.

Diese Schicksalsnacht hat Konsequenzen auf Annes Leben – denn si e nimmt Lucys Schuld auf sich. Sie behauptet, dass sie (Anne) noch im Dienst war und den Raum verließ. Als Konsequenz verliert Anne ihren Job. Sie muss bei Nacht und Nebel ihre Bleibe in Shereford verlassen und reist mit dem Zug nach Manchester, um einen neuen Job zu suchen.

In einer Zeitung liest sie, dass man in einer Privatklinik in Hepperton "kräftige, junge" Krankenschwestern sucht. Sie bewirbt sich und bekommt einen Job. In Hepperton kann sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Sie hat Berufserfahrung, kennt sich aus mit der Dosierung vieler Medikamente und sie kann arbeiten bis zum Umfallen –auch an den Wochenenden. Freie Tage hat sie ohnehin kaum – um jeden Urlaubstag muss sie betteln.

In Privatklinik in Hepperton lernt sie Dr. Prescott kennen. Er ist ein begabter Chirurg, vor dem ihre Kolleginnen und Kollegen höchsten Respekt haben. Während einer Operation, bei der Anne ihm assistiert, bemerkt sie, dass noch ein Tampon im Körper des Patienten sein muss. Solche Tampons werden bei Operationen verwendet, um Blutungen zu stillen. Der Patient ist Matt Bowley, ein bekannter Industrieller der Stadt, der auch schon einige Spenden ans Krankenhaus geleistet hat. Anne kann sich dezent bemerkbar machen – Dr. Prescott sucht nach dem Tampon und findet ihn tatsächlich. So hat sie nicht nur Matt Bowleys Leben gerettet, sondern sich auch bei Dr. Prescott einen bleibenden Eindruck verschafft.

Blick auf den Neckar (Bild: @2016 by Wonderful_Life_74)

Auch Anne Lee beweist Mut und Umsicht nach einem Unfall

Dieser Eindruck wird noch vertieft, als Anne Lee nach einem Wochenende in London auf der Rückreise nach Hepperton in einen Unfall gerät. Sie ist mit einem Reisebus unterwegs – dem Bus eines Busunternehmens, das Joe Shand gehört. Joe war einst Annes große Liebe, als sie noch in Sherewood wohnte. Und jetzt hat ihn Lucy geheiratet und wohnt mit ihm in London.

Der Bus, in dem Anne sitzt, gerät in der Nacht von der Fahrbahn ab und stürzt eine Böschung hinunter. Anne kann sich befreien, sie ist leicht verletzt. Sofort kümmert sie sich um die verunglückten Mitinsassen, von denen einige sterben könnten, wenn sie nicht bald in einem Krankenhaus behandelt werden.

Mit Annes Hilfe können viele Insassen aus dem Bus befreit werden, bevor der Bus in Flammen aufgeht. Einige Insassen können sich selbst retten. Anne leistet erste Hilfe – stoppt beispielsweise eine Arterienblutung am Arm eines Mädchens, indem sie ihn abbindet. Sie schafft es, einen vorbeifahrenden Autofahrer zum nächstgelegenen Bauernhof zu schicken, damit er Hilfe holen kann. Auch Dr. Prescott wird alarmiert, dem sie bei einigen Operationen assistiert, bei denen er verletzte Passagiere aus dem Bus operiert.

Anne wird durch ihr Eingreifen berühmt. Über sie wird in der Zeitung berichtet. Trotzdem versucht sie, bescheiden zu bleiben. Nichts scheint ihrer Karriere in Hepperton entgegenzustehen. Bis sie eines Tages die Gattin von Matt Bowley pflegen soll – und sich dieser Unternehmer ihr eines Tages unsittlich nähert. Seine Gattin sieht das. Sie vermutet, dass sich zwischen Anne und ihrem Mann etwas anzubahnen scheint, und zieht daraus die falschen Schlüsse. Und plötzlich steht Annes Arbeitsplatz in Hepperton auf der Kippe…

Der Schreibstil

Das Buch lässt sich flüssig lesen. Dazu trägt nicht nur die spannende Handlung und der sympathische Hauptcharakter Anne Lee bei, sondern auch die vielen Dialoge.

Weiterhin ist das Buch noch in der alten deutschen Rechtschreibung verfasst. Kein Wunder – das Buch ist ja mehr als 50 Jahre alt. Die Handlung ist aus der Sicht des auktorialen Erzählers in der Vergangenheit (Imperfekt) verfasst.

Auffällig sind einige veraltete Wörter und Redewendungen, die man in aktuellen Romanen nicht mehr findet – beispielsweise, dass jemand etwas mit "umwölkter Miene" sagte. Dann besaßen Lucy und ihr Mann ein "herziges Häuschen" – heutzutage würde man "hübsches Häuschen" dazu sagen. Den Ausdruck "kleine Isolierabteilung des Bezirksspitals von Shereford" würde man jetzt durch die Worte "kleine Intensivstation des Krankenhauses von Shereford" ersetzen.

Jedoch werden solche altertümlichen Redewendungen durch die interessante Handlung wieder wettgemacht, sowie durch die Tatsache, dass die Hauptpersonen Anne Lee, Dr. Prescott und einige Nebenfiguren rundum sympathisch sind. Mir hat Anne mehrmals bei der Lektüre leidgetan – ich habe mitgelitten, als sie unverschuldet in Situationen geriet, die sie ihre Arbeit und auch ihren guten Ruf in einigen Krankenhäusern kostete. Da musste sie bei Nacht und Nebel plötzlich Orte und Arbeitsplätze, die ihr lieb geworden waren, verlassen.

 

Sozialkritische Aspekte

Archibald Joseph Cronin (A. J. Cronin) schrieb nicht nur viele packende Romane, sondern er verwob darin auch einige sozialkritische Aspekte. So kommt in "Die Schicksalsnacht" zur Sprache, dass Krankenschwestern in den 1920er- und 1930er-Jahren sozial nicht abgesichert waren (ich nehme an, dass das Buch in diesen Zeiträumen spielt). Sie schufteten für wenig Geld – auch an den Wochenenden. Sie hatten kaum Urlaub, bekamen in vielen Krankenhäusern schlechtes Essen und ihre Alterssicherung war mies. Als Rentnerinnen verarmten viele.

Im Buch wird ein Fall einer Schwester in Rente angesprochen, die sich aus Verzweiflung das Leben nahm. Sie war arm und konnte sich keine warme Wohnung leisten. Eine alarmierende Situation, die einige Schwestern, auch Anne Lee, auf den Plan rief, hier unverzüglich etwas zu verbessern. Anne Lee wurde Mitarbeiterin des Schwesternverbands – einer Gewerkschaft, die sich für die Rechte der Krankenschwestern einsetzte.

Das Buch auf einer Bank mit Blick auf eine Burg (Bild: @2016 by Wonderful_Life_74)

Punktum – ein Roman, wie ein Märchen

Leute wie ich, die einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben, dürfte die Lektüre von "Die Schicksalsnacht" sehr zufriedenstellen. Denn einige Leute, die sich in dem Buch irgendeines Vergehens schuldig gemacht haben, bekommen eine Strafe.

Das Buch hat – in vieler Hinsicht – ein "happy end" – ein glückliches Ende also. Es ließ mich mit einem zufriedenen Gefühl zurück. Und ich denke, es ging einigen anderen Lesern ebenso.
Nicht vergessen sollte man, dass es sich bei "Die Schicksalsnacht" um einen Entwicklungsroman handelt. Der Hauptcharakter Anne Lee gewinnt in verschiedenen Krankenhäusern und Situationen an Lebenserfahrung. Sie wird reifer, aber auch ernster.

Vielleicht würde das Buch heute noch viele Leser finden, wenn es in zeitgemäßer Sprache verfasst wäre. Es ist für mich ein historischer Roman aus dem letzten Jahrhundert, der Begebenheiten und Erlebnisse der Berufsgruppe "Krankenschwester" zeigt. Der soziale Status der Krankenschwestern war oft aussichtslos und verbesserungswürdig. Sie arbeiteten nicht nur sehr viel, sondern konnten auch sehr leicht ihren Job verlieren.
"Die Schicksalsnacht" ist ein gutes Buch aus vergangenen Zeiten – ein Buch, das es wert ist, nicht vergessen zu werden.

 

 

Ein Krankenhaus-Musikvideo aus heutiger Zeit
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