Gabriel Tallent: Kritik des Romans "Mein Ein und Alles"
In Amerika ist das Buch längst ein Bestseller. Martin Alveston, ein verrohter Waffennarr mit Ausstrahlung, liebt seine 14-jährige Tochter Turtle über alles. Bis hin zum Inzest.
Buchcover
© Penguin Verlag
Ein liebender, eifersüchtiger, schlagender Vater
Das Buch ist ein Fest für Botaniker – selten wird so intensiv auf die Flora und Fauna eines Waldgebiets eingegangen. Aber Tallent übertreibt mit seinen Spezial-Kenntnissen: Jedes Tier, ja jedes Minimalinsekt wird genannt und beschrieben, jede Pflanze und jeder unbedeutende Strauch, eingebunden in eine poetische Sprache, die leider zu viel will. Die permanenten Landschaftsbeschreibungen sind auf Dauer etwas nervtötend und halten nur die Handlung auf. Turtle hat auch einen alkoholabhängigen Opa, ein ehemaliger Vietnam-Veteran, der im Krieg so manche Kehle durchgeschnitten hat, jetzt in einem Wohnwagen lebt und dem Tod entgegenharrt, der auch bald einsetzt. Großvaters Meinung war immer: So wie Martin das macht, kann man ein Mädchen nicht erziehen. Offensichtlich hat die Primitivität des Vaters auch auf Turtle, die gerne nach Abreißen des Giftschwanzes rohe Skorpione verschlingt, abgefärbt. Sie denkt über eine Mitschülerin: "Eher würde ich dich...vom Arschloch bis zu deinem kleinen Nuttenhals aufschlitzen, als deine Freundin zu werden." Derartige Gedanken, die den gesamten Roman durchziehen, machen sie nicht gerade sympathisch, obwohl wohl nicht wenige Leser*innen für Turtle aufgrund ihres traurigen Schicksals viel Empathie aufbringen dürften. Eines Tages lernt sie die Jugendlichen Jacob und Brett kennen, zwei völlig gegensätzliche Charaktere. Während Brett eher eine Proll-Sprache bevorzugt, ist es Jacobs Ziel, möglichst intellektuell und originell daherzureden. Letzterer redet beinahe druckreif – das wirkt sehr unglaubwürdig. Als Martin in Turtles Sachen ein T-Shirt von Jacob entdeckt, rastet er aus Eifersucht aus und schlägt sie windelweich – und das ist nicht das erste Mal.
Zum Schluss der Showdown
Es ist ein Wunder, dass Turtle ihren brutalen Vater trotzdem liebt, jedenfalls auf ihre Weise. Immerhin ist er ihre einzige enge Bezugsperson, die ihr das Überleben in der Natur und die damit verbundene Zähigkeit beigebracht hat. Unausgesetzt fummelt Turtle an ihren Waffen herum, sie baut sie auseinander, setzt sie wieder zusammen und putzt sie notorisch, als handele es sich um einen Fetisch. Reinigungsarbeiten ohne Unterlass – irgendwann hat man genug davon. In den englischsprachigen positiven Kritiken wird immer wieder die im Roman enthaltene Spannung hervorgehoben. Bedauerlicherweise ist davon nicht viel zu merken. Gut, am Ende kommt es zu einem Showdown zwischen Vater und Tochter. Sie fährt zu einer Party von Jacob, der gar nicht da ist, und wenig später taucht der tobende Vater auf, der derartige Alleingänge nicht mag. Es kommt zu einem Schusswechsel, bei dem beide getroffen werden, aber letztlich stirbt nur Martin, und zwar durch einen letzten, letalen Messerstich. Die durch die Durchsiebung behinderte Turtle lebt weiter, "beschützt" von ihrer Lehrerin und Mentorin Anna, und versucht verzweifelt, ein Planzenbeet anzulegen. Sympathisch ist bei diesem Personal keiner – Turtle verblüfft allerdings manchmal durch ihre durchsickernde Empfindsamkeit -, abgesehen von Jacob vielleicht, der am Ende nicht mehr auftritt. Das ist ein aus der Art geschlagenes Amerika, das von Waffenvernarrtheit geprägt ist. Trotz des anspruchsvollen Sprachstils ist der Roman eine Enttäuschung.
Gabriel Tallent: "Mein Ein und Alles". Aus dem Amerikanischen von Stephan Kleiner. Penguin Verlag: München 2018. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 480 Seiten
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)