Inhalt: Vom Schneider Wenzel zum Graf Strapinski

Der entlassene Schneidergeselle Wenzel Strapinski besitzt nicht mehr als sein Sonntagskleid, den samtenen Mantel und eine polnische Fellmütze, von denen er sich um nichts in der Welt trennen mag. Angesichts seines gepflegten Äußeren und der vornehmen Kleidung bleibt ihm allerdings nicht mal das Betteln. So zieht er mit knurrendem Magen von Seldwyla Richtung Goldach, wo er Aufträge zu finden hofft. Ein Kutscher nimmt ihn mit in die Stadt, und als das herrschaftliche Gefährt vor einem Gasthaus hält, sorgt es sogleich für Aufsehen. Das arme Schneiderlein weiß gar nicht, wie ihm geschieht: Der Wirt komplimentiert es in die gute Stube und tischt dem vermeintlich hohen Herren die erlesensten Köstlichkeiten auf.

Erst zögerlich, was ihm ebenso wie seine sparsamen Worte als besonders vornehm ausgelegt wird, dann mit zunehmendem Appetit greift der Hungerleider zu: Wenn die Sache irgendwann auffliegen würde, so sollte sich die Schmach wenigstens gelohnt haben. Der schalkhafte Kutscher macht die Scharade jedoch perfekt, indem er ihn als den polnischen Graf Strapinski ausgibt.

Die noblen Herren von Goldach und das hübsche Nettchen

Strapinski sieht sich bald von einer stattlichen Anzahl nobler Herren umringt, die dem Grafen ihre Aufwartung machen. Die Gesellschaft lädt ihn auf das Gut des Amtsherren. Einzig der skeptische Buchhalter Melcher Böhni schöpft Verdacht, ihm kommt etwas Abwechslung in dem verschlafenen Städtchen allerdings nicht ungelegen. Das Schneiderlein gewinnt einige Taler im Kartenspiel und will sich eben aus dem Staub machen, als der Amtsrat ihm seine Tochter Nettchen vorstellt. Angesichts des hübschen Fräuleins beschließt Wenzel sein Glück noch etwas zu genießen, und dieses bleibt ihm zunächst auch hold: Seine Unbeholfenheit, seine Furcht und Zurückhaltung – alles wird ihm als Ausdruck adliger Noblesse ausgelegt.

Er wird mit allem versorgt, was er für ein standesgemäßes Leben benötigt, und eignet sich schnell die Etikette an. Nachts jedoch verscheuchen Furcht vor Entdeckung und sein Gewissen den Schlaf. Zur Beruhigung nimmt er sich vor, das Schneiderhandwerk alsbald wieder aufzunehmen und seine Schulden aus der Ferne mithilfe von Lotteriegewinnen zu tilgen.

Leute machen Kleider: Die Schneider aus Seldwyla

Seine Abreise scheitert allerdings an der Liebe zu Nettchen. Er hält erfolgreich um ihre Hand an und gibt sein letztes Geld für die Hochzeit aus. Die Festgesellschaft fährt zu einem Gasthaus vor der Stadt, wo zum selben Zeitpunkt ein karnevalesker Schlittenzug aus Seldwyla eintrifft. Dieser besteht augenscheinlich aus einer Gesellschaft internationaler Schneider, auf ihren Schlitten prangen die Inschriften "Leute machen Kleider" und "Kleider machen Leute". Sie bieten den Goldachern eine Vorführung, an deren Ende ein Doppelgänger des vermeintlichen Grafen auftritt und dessen Verwandlung nachspielt. Dieser ist niemand anderes als des Schneidergesellen ehemaliger Meister. Höhnisch entlarvt er den geschockten Wenzel vor aller Augen, und es entsteht ein großer Tumult.

Happy End (?) der Handlung – Wenzel in Goldach

Das Schneiderlein schreitet gesenkten Hauptes von dannen. Auf der Straße nach Seldwyla weint es bitterlich über die Schmach und schläft schließlich im Schnee ein. Nettchen greift sich derweil das Gespann des Melcher Böhni – kein anderer als der von ihr zurückgewiesene Freier war der Urheber des Spektakels. Sie findet den halb erfrorenen Wenzel, und in einem Bauernhof kommt es zur Aussprache. Strapinski erzählt ihr, wie alles geschah. Nettchen erkennt, dass sie ihn wirklich liebt, und sie flüchten nach Seldwyla. Energisch fordert sie von ihrem Vater das mütterliche Vermögen ein und heiratet Wenzel, nachdem ein Rechtsanwalt dessen Schuldlosigkeit einwandfrei geklärt hat. Als Tuchhändler macht das einstige Schneiderlein mit Spekulationen ein Vermögen und zieht schließlich mit seiner Familie nach Goldach.

Gottfried Keller - Kleider machen Leute

Interpretation: Falsche Träume und wahre Werte

Gottfried Kellers Novelle kritisiert die aufkommenden Spekulationen mit dem auch durch die Lotterien vermittelten materiellen Glücksversprechen, die allen Entscheidungen der Bürger zugrunde liegende überhöhte Bedeutung des Geldes sowie die Unterwürfigkeit gegenüber der Oberschicht, die ohne zu arbeiten ihren müßigen Alltag in Saus und Braus bestreitet, während das arbeitende Volk vom Reichtum ausgeschlossen ist. Die Schneider stellen die noblen Kleider her, mit denen sich die Noblen über sie stellen. Die Erhabenheit der noblen Herren beruht somit auf der Arbeit der anderen – und auf deren Einfältigkeit. Denn die Schneider entlarven zwar das falsche Spiel von Wenzel, nicht jedoch das Spiel selbst. Ihr Spott richtet sich gegen das unglückliche Schneiderlein, nicht gegen die anwesenden Herren. Deren Schein wirkt fort.

Kleider machen Leute: Schein statt Sein in Kellers Novelle

Auch auf anderen Ebenen wird die Determination des Seins durch den Schein entlarvt – nicht zuletzt in den nach Tugenden benannten Stadtgebäuden, in denen anstatt Tugend Gewinnstreben, stupide Langeweile und Beschränktheit hausen. Die Scharade des Schneiderleins besitzt einen Doppelcharakter, wie er ähnlich Hans Christian Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider" zugrunde liegt: Zum einen stellt sie die sensationslüsterne Leichtgläubigkeit und Anfälligkeit der Bürger für Äußerlichkeiten bloß und gibt ihre vom Biedermeier geprägte Traumwelt der Lächerlichkeit preis. Zum anderen zeigt sie, dass sich die "bessere" Gesellschaft in Wirklichkeit – ohne den Anschein, die aufgestülpte Hülle aus Erhabenheit und goldenem Glanz – um nichts von den einfachen Leuten unterscheidet, indem sie ihre Rollenhaftigkeit und Verkleidung als solche zu erkennen gibt.

Die Hülle ist austauschbar. Sie lässt den Träger erstrahlen, nicht er sie. Nicht Tugend, Verdienste und persönliches Vermögen erheben die Menschen, sondern bloße Symbole von Status, Macht und materielles Vermögen.

Gottfried Keller – Kritik am Untertanengeist des Biedermeier

Die biederen Bürger sehen, was sie sehen wollen und sehen sollen: Einen dem spätromantischen Ideal entsprechenden melancholischen und geheimnisumwitterten Grafen, dessen Anwesenheit ihren eintönigen Alltag durchbricht. Und dem sich die einen mit vollem Untertanengeist dienstbar machen, die anderen aus Langeweile und Geschäftssinn anbiedern.
Am Ende siegt das Sein in Form der ehrlichen Liebe über alles falsche Spiel, wird die Maskerade durchbrochen. Allerdings bricht Gottfried Keller auch mit diesem romantisierenden Ende: Der Schneider wird selbst zu einem wohlbeleibten und selbstzufriedenen Spekulanten, von dem man bei seinem Umzug ins reiche Goldach nicht mehr weiß, ob er "aus Undank oder aus Rache" keinen Groschen in Seldwyla zurücklässt.

Autor seit 9 Jahren
42 Seiten
Laden ...
Fehler!