Konzert für die Unerschrockenen

Konzert für die Unerschrockenen (Bild: Braumüller Verlag)

Zwei Tagebücher verändern Annas Leben von Grund auf. Es sind die ihrer Großtante Leah, einer jüdischen Cellistin, die im Alter von 95 Jahren in London, wo sie die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte, gestorben ist. Nach der Beerdigung überlässt Leahs Sohn Philip ihr die Bände mit den Aufzeichnungen, die 1925 beginnen und 21 Jahre später enden.

Zwanzig Jahre, die die Welt ins Chaos stürzen und die Künstlerin zur ruhelos Wandernden werden lassen. Sie folgt ihren drei Ehemännern nach Schanghai, zurück in die Schweiz, wo sie die letzten fiebrigen Jahre vor Ausbruch des Krieges erlebt, und 1938 nach Palästina. Nach einem Zwischenstopp in Indien lässt sie sich mit Simon, ihrem letzten Ehemann, 1946 in England nieder. Ein Jahr später enden ihre Tagebuchaufzeichnungen.

Puzzleteile eines Lebens

Für Anna sind sie ein Schlüssel zu ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Geschichte, die sie bislang nur bruchstückhaft kannte. Ihr Vater, ein Schriftsteller, hat seine Frau mit den Kindern sitzenlassen. Die Wunde des Verlassenwerdens ist bei Daniel, Annas Bruder, nie vernarbt. Längst hat er sich von der Familie losgesagt und in eine, wie es scheint, nicht gerade glückliche Ehe geflüchtet.

Und Anna erfährt Dinge, die ihr ihre Eltern verschwiegen haben. Wie ein Spiegel der eigenen Erfahrungen erscheinen ihr auf einmal die Aufzeichnungen ihrer Großtante. Auch Anna ist von einer Ruhelosigkeit getrieben, deren Ursache ihr unergründlich war. Die Lücken im Puzzle ihres Lebens füllen nicht nur Leahs Tagebuchaufzeichnungen, sondern auch die Romane des Vaters, die sie erst jetzt, Jahrzehnte nach der Veröffentlichung, erstmals zur Hand nimmt. 29 Komma 5 Prozent davon seien autobiografisch, erzählt ihr der von einem Herzinfarkt genesene Vater, aber dieses knappe Drittel reicht Anna, weitere Löcher in ihrer Biografie zu füllen und ganz allmählich zu verstehen, wer sie selbst ist und was sie will.

Parallelen über Generationen hinweg

Leahs Leben und Annas Entwicklung sind zwei von insgesamt drei Handlungssträngen in Bettina Spoerris Romanernstling "Konzert für die Unerschrockenen". Es gibt einen weiteren, und auch dieser dritte ist geprägt von Verheimlichungen und Verdrängungen. In London, wo Anna sich wegen Leahs Beerdigung aufhält, lernt sie zwei Männer kennen, Peter und Robert, die etwas verbindet, über das zunächst keiner der beiden reden will. Erst nachdem Anna sich auf eine Beziehung mit Robert einlässt, erfährt sie, dass er verantwortlich ist für die Behinderung von Sophie, Peters Schwester, mit der er einst ein Verhältnis hatte: Seit einem Autounfall, den Robert verschuldet hat, liegt Sophie im Koma.

Und wieder entdeckt Anna Parallelen zu ihrer eigenen Biographie: So, wie ihr Vater von der jüdischen Familie der Mutter abgelehnt wurde, so wurde auch Robert, ebenfalls Jude, von Peters Familie nie akzeptiert. Da der verhängnisvolle Unfall geschah, als Sophie mit Robert vor ihrer Familie flüchten wollte, halten sich dessen Schuldgefühle in Grenzen: Wäre die Familie nicht so starrköpfig gewesen, hätte sie ihre Tochter nicht in diesen Zustand getrieben.

Gefangene der Familiengeschichte

Sehr behutsam, fast wie nebenbei spinnt Spoerri ihre Handlungsfäden zu einem dichten Gewebe zusammen. Die Biografien dreier Generationen greifen immer tiefer ineinander, und Anna erkennt zum Schluss, dass sie damit, im Guten wie im Bösen, klarkommen muss, um ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen. Sie ist, wie jeder von uns, eine Gefangene ihrer Familiengeschichte, und es liegt an ihr selbst, sich in dieser lebenslänglichen Haft, aus der es keine vorzeitige Entlassung gibt, so einzurichten, dass sie nicht selbst an der (Familien-) Geschichte erstickt.

"Es hat keinen Zweck, ausweichen oder fliehen zu wollen. Dieses Ungetüm ist immer wendiger und schneller (…) Es gibt nur einen Weg, um so ein Monstrum zu bändigen. Ich muss seine Geschichte noch besser kennenlernen, alle Fragen stellen, die mir einfallen. Wenn ich schon nicht aus dieser Generationenmaschine aussteigen kann, will ich wenigstens so viel wie möglich über sie wissen. …"

Wenn der Roman auch eine unwiderstehliche Sogwirkung entfaltet, so entwickelt er an manchen Stellen allerdings eine akademische Schwerfälligkeit und in den Dialogen bisweilen die Anmutung einer Podiumsdiskussion, etwa wenn Anna und Daniel sich über ihre eigene Erziehung unterhalten. Und auch manche Binsenweisheit findet sich im Text ("Manchmal ist Vergessen einfacher als Erinnern", "Verwandtschaft ist schon etwas Seltsames (…) Einerseits gibt sie Rückhalt, andererseits belastet sie").

Immerhin hat die Konfrontation mit der belastenden Verwandtschaft Anna den ersehnten Befreiungsschlag beschert: Sie, die lange nicht zu wissen schien, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte, setzt den Entschluss in die Tat um, ihr Studium in Berlin zu beenden: "Nur in Berlin kann man sein, was man möchte."

Hoffen wir für Anna, dass ihre Hoffnungen sie nicht trügen.

    © Rainer Nolden

 

Bettina Spoerri, Konzert für die Unerschrockenen. Braumüller Verlag Wien, 464 Seiten, 22,90 Euro

 

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