Kriegskinder - Trauma, Träume, Trauer
Nach vierzig, fünfzig Jahren brechen plötzlich seelische Störungen über Menschen herein. Ursache sind Kriegserlebnisse, denen sie im Zweiten Weltkrieg als Kinder ausgesetzt waren.Leiden im Krieg, Leiden am Krieg
Bild: Warschau nach einem Bombenangriff 1939
Auf dem "Kriegskinderkongress" 2005 in Frankfurt am Main stellten sich Wissenschaftler zum ersten Mal diesem Problem. Kriegskinder sind Menschen, die durch kriegerische Handlungen, in die sie verwickelt waren oder die sie erdulden mussten, geschädigt wurden. Viele davon leiden unter dem psychotraumatischen Belastungssyndrom (PTSB). Kennzeichen für das PTSB sind überwältigende Erinnerungsschübe, Rückzug aus der Gesellschaft und ständige Gereiztheit.
Man kann davon ausgehen, dass etwa ein Drittel der betroffenen Kinder sehr schwer oder schwer geschädigt sind.1 Diese Zahl kann man auch für die Kriegskinder im Alter von 60+ sagen. Verglichen dazu leiden nur 0,7 % der Schweizer an seelischen Störungen im Alter.
Viele der "alten" Kriegskinder sind beschwerdefrei und erfolgreich durch das Leben gegangen. Im Alter aber nimmt die Erinnerung an frühere Zeiten zu und die Kraft zu verdrängen ab. So kommt es bei einer größeren Zahl von alten Menschen zum Auftauchen von Erinnerungen an die Schrecknisse des Krieges: Erleiden von Gewalt, Vergewaltigungen, Angriffen, Bombardierungen, Folterungen, Hunger, Durst, Kälte, Hitze; aber auch das Sehen von strebenden Menschen, von Vergewaltigungen, von Hinrichtungen, von Schlägen führen zu Traumatisierungen und den Folgen bis in das hohe Alter, bis in die Träume.
1Siehe Spranger, S. 27. ff.; Bode, S. 12 ff.
Bericht von Olga V.
Aus einem Interview mit Olga P.
"Ich war damals sechzehn Jahre. Ein junges Mädchen. Da waren die Russen gekommen. Wir mussten raus aus der Wohnung. Auf einen Lastwagen. Wohin? Ich wollte mit meiner Schwester und meiner Mutter zusammenbleiben. Wir hatten Glück. Die Russen waren anständig zu uns. Wir kamen nach Ravensbrück. Dort in eine Baracke. Der Krieg war ja aus. Die ehemaligen Insassen weg weg. Wir mussten aufräumen. Die Kleider, die Schuhe, die Brillen. Wir hatten keine Schwierigkeiten mit den Russen. Aber gehört hat man es schon manchmal.
Ich kann heute keine Haare anrühren. Es schüttelt mich. Mein ganzer Körper bebt und zittert. Ich musste die Haare, die man den Toten genommen hat, säubern. Da waren noch Hautfetzen dran. Ich kann nicht daran denken.
Dann kamen wir auf einen Zug. Irgendwo in Polen hielt der. Ein Mann hat uns angesprochen, ob wir wüssten, wohin der Zug geht? Nein, wussten wir nicht. Wir dachten nach Litauen, wo wir vor dem Krieg als Deutsche gewohnt hatten. Er sagte, kommt schnell mit mir, der Zug geht nach Sibirien, ich brauche Arbeitskräfte. Als wir in voller Panik in einem unbewachten Moment fliehen konnten, sah ich noch, wie ein russischer Soldat ein Baby mit dem Kopf gegen die Wand schlug."
Was ist ein Trauma?
Unter Trauma versteht man eine schwere seelische Verletzung, die in einer traumatisierenden Situation entstanden ist. Diese ist ein "vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit [...] einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Welt- und Selbstverständnis bewirkt"1. Dies kann durch Naturkatastrophen oder durch Menschen geschehen. In so einer Situation bleiben Menschen (und Tieren) drei Möglichkeiten der Reaktion: Fight, Flight, Freeze und Fragment. Fight und Flight sind Reaktionen, die versuchen, die völlige Ohnmacht gegen die Bedrohung zu verhindern. Scheiden die beiden Möglichkeiten aus, bleibt dem Gehirn nur noch die Möglichkeit von Freeze und Fragment. Man erstarrt, wird gefühllos, lässt alles geschehen oder man spaltet einen Teil von sich ab und betrachtet sich wie ein Beobachter von außen und erinnert sich weder an vorher noch nachher.2
Es gibt Menschen, die solche Situationen relativ unbeschadet überstehen. Wenn andere (vielleicht ein Drittel von Betroffenen) länger unter Symptomen leiden, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Kennzeichen für dieses Leiden sind Erinnerungen in Albträumen oder in Tagträumen an Teile des Geschehens, Rückzugsreaktionen oder eine ständige Übererregung.3
Das Geschehen bei einer Traumatisierung ist ungeheuer komplex. Diese Definition verlangt nach weiteren Ausführungen, die hier nicht gegeben werden können und bei Fischer/Riedesser (siehe Literatur) zu finden sind.
1 Fischer/Riedesser, S. 82 2 Huber, S. 37 ff. 3 Huber, S. 68 ff.
Befreite KZ-Häftlinge (Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia Commons)
Krank
Frau Serena F. (75) leidet unter chronifiziertem Kopfschmerz, der immer in bestimmten Situationen auftritt. bei einer größeren Menschenansammlung, in der Nähe von Kirchen, beim Klang der Kirchenglocken, bei feierlicher Musik. Sie beschuldigt sich immer selber, Fehler gemacht zu haben, die sie gar nicht gemacht haben konnte. Ohne Grund fängt sie plötzlich an zu weinen, wahre Tränenströme brechen aus ihr heraus.
In Laufe der Gespräche erzählte sie, wie sie als Dreijährige auf einem Bauernhof im Osten einen Überfall der Russen hatte erleben müssen, die ihren Hund mit vielen Feuerstößen zur Unkenntlichkeit zerschossen hatten. Sie hatte sich noch retten können, weil sie in einem steinernen Schweinetrog Unterschlupf fand. Ihr Vater sei wie ihr Hund zerfetzt worden. Erst bei der Beerdigung habe sie weinen können.
Das alles hätte sie vergessen gehabt. Urplötzlich seien das Weinen und das Kopfweh bei der Beerdigung einer Freundin vor vier Jahren ausgebrochen. Seither träume sie häufig immer wieder, wie der Hund und der Vater zusammengeschossen wurden.
Diese Fallgeschichte zeigt, wie im fortgeschrittenen Alter ein Reiz reicht, den Erinnerungsstrom auszulösen und seelisch darunter zu leiden. Es mag merkwürdig erscheinen, dass in der Zeit zwischen dem Erlebten und der Wiederkehr der Erinnerung daran, eine Phase von Beschwerdefreiheit lag. Der Verdrängungsprozess und die Ablenkung durch Beruf, Kinder... lenkte von den eingekapselten Erinnerungen ab. Fallen die äußeren Bedingungen weg, drängt das Erlebte nach oben.
Kinder in traumatisierenden Kriegssituationen
Direkte Betroffenheit
Lebensgefahr, körperliche Verletzungen, Folterung, Vergewaltigung, Trennung von Eltern/Vertrauten, Versklavung, Vertreibung, Hunger/Durst/Hitze/Kälte, Zerstörung der gewohnten Welt
Traumatisierung durch Beobachtung von
Panik, Angst, Verzweiflung, Verletzungen, Sterben, Tod, Misshandlung von anderen
Kinder als Täter
Kindersoldaten, Kriminalität, Bandentum
Nach Fischer/Riedesser S.313 f.
Wer hilft?
Lange Zeit fanden die alten "Kriegskinder" wenig Verständnis für ihr Leiden. Auch sie selber konnten nicht einsehen, warum nach so langer beschwerdefreier Zeit nun plötzlich die längst vergessen geglaubten Erinnerungen solche Störungen hervorrufen.
Der Verein Kriegskind.de unter der Vorsitzenden Dr. Helga Spranger und das Projekt Kriegskindheit an der Münchner Universität mit Prof. Dr. Michael Ermann sind gute Informationsquellen für allgemeine Fragen. Ebenso kann man sich über Therapiemöglichkeiten bei der "Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGT)" informieren. Ein Projekt, vor allem für Schüler, bietet das Anne Frank Zentrum an.
Wenn man unter Symptomen leidet, soll man zum Facharzt gehen. Allerdings müsste er ein wenig von dieser Problematik verstehen. Die Gefahr, das Leiden falsch einzuschätzen, ist groß.
Ausblick
In diesem Artikel wird die Problematik nur am Beispiel des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Überall in der Welt finden Kriege statt, die Kinder (nicht nur diese) schwer schädigen, körperlich wie seelisch. Warum und wozu?
Kindersoldaten, Flüchtlinge aus Syrien, Palästinenser, Hutus, Tutsis haben Schreckliches erlebt und erleben es noch. Einige überwinden die traumatisierende Kriegssituation bald und ohne größeren (spürbaren oder beobachtbaren) Schaden. Viele leiden daran. Zahlen zu nennen ist deshalb unmöglich, weil die Messlatte für seelische Leiden noch nicht gefunden ist.
Kriegskinder - Trauma, Träume, Trauer - Wichtige Links
Michael Ermann: Wir Kriegskinder
Fundamentaler und lesbarer Übersichtsartikel vom emeritierten Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität München (LMU)
Homepage des Vereins "kriegskind.de e. V."
Hilfreicher Ausgangspunkt für alle Fragen zum Thema
War child international network
Homepage einer internationalen Organisation, die sich weltweit um kriegsgesschädigte Kinder kümmert
Homepage des Anne Frank Zentrums in Berlin
Das Anne Frank Zentrum führt zurzeit ein Projekt über Kriegskinder durch.
Kommentierte Literaturempfehlungen
Allgemein:
Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter: Lehrbuch der Psychotraumatologie, München 2003; Standardwerk; sehr empfehlenswert, theoretisch anspruchsvoll
Goltermann, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009; hervorragende Darstellung, wie die Psychiatrie in der Nachkriegszeit mit Kriegstraumatisierten umging
Huber, Michaela: Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung, Teil 1, Paderborn 2003, sehr gute Einführung in die Psychotraumatologie, leicht zu lesen, viele praktische Hinweise
Levine, Peter A: Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers, Essen 1998, Grundlagenwerk, leicht zu lesen, nachvollziehbare biologische Erklärungen
Zu Kriegskindern:
Baschek, Sigrid/Betzendahl, Herta: Wo sind meine Schule? Was ist ein Trauma und wie bewältigt man es?, Hamburg 2005; imponierende Schilderung des Ausbruchs von Schmerzen und des Therapieverlaufs
Müller-Hohagen, Jürgen: verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Seelische Nachwirkungen de NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung, München 2005, sieht die Krankheiten im familiären Verbund, gute Falldarstellungen, praxisorientiert
Spranger, Helga (Hrsg.): Der Krieg nach dem Krieg. Spätfolgen bei traumatisierten Menschen, Norderstedt 2007, guter Überblick über das gesamte Problemfeld mit praktischen Hinweisen, bezieht auch andere Kriege mit ein
Radebeul, Hartmut (Hrsg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen, Gießen 2005, guter, theoretisch anspruchsvoller Überblick
Bode, Sabine: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2013; "Bestseller", gut lesbar, anschaulich, viele Fallbeispiele
Stargardt, Nicholas: Kinder in Hitlers Krieg, München 2006; sehr ausführliche und detaillierte Schilderung, faktenreich
Bilderverzeichnis
Vorschaubild: Erinnerungen Rainer Sturm / pixelio.de
Befreite KZ-Häftlinge: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f3/743rd_Bergen_Train_Picture_Cropped.jpg; 22.02.2013
Kind mit Hund in Warschau nach einem Bombenangriff 1939, 5. September 1939; Julien Hequembourg Bryan, Fotograf; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Warsaw-1939_64467.jpg; 22.02.2013
Bildquelle:
http://www.geschenke-der-hoffnung.org/
(Weihnachten im Schuhkarton)
Kuscheltier
(Tunnel-Menschen - ein Leben in Dunkelheit)