Inhalt – Herr Geiser und die Abgeschiedenheit

Ein Tal im Tessin: Nach einem Unwetter ist die Zufahrtsstraße zum Dorf verschüttet. Der ursprünglich aus Basel stammende Witwer Herr Geiser (74) lebt alleine in seinem Haus. Während draußen ein Gewitter tobt, schlägt der Rentner die Zeit tot. Er baut Türmchen aus Knäckebrot, beruhigt sich mit Wissen über den Goldenen Schnitt und kategorisiert verschiedene Arten von Donner. Sein Rucksack ist gepackt, er weiß jedoch, dass die Flucht über die Berge nach Italien oder ins Tal lebensgefährlich ist. Tagelanger Regen zwingt ihn im Haus zu bleiben. Er liest in Büchern über die Entstehung des Lebens, aber er vergisst schnell wieder, weshalb er Zettel an die Wand heftet. Dabei fragt er sich manchmal, warum er sich das Wissen eigentlich aneignet. Als der Strom ausfällt, bleibt ihm nur noch das Lesen.

Ein Ausflug und das tiefe Tal des Vergessens

Herr Geiser wandert ins nächste Dorf. Auf seinem Weg sinniert er über das Tal: Die jungen Bewohner wandern ab, dafür kommen die Touristen. Ansonsten ist und war es seit jeher unbedeutend. Herr Geiser schätzt die frische Luft und das klare Wasser hier. Er erinnert sich an einen Aufenthalt in Island. Und in einem Gasthaus erfährt er, dass irgendwo im Tal Hänge gerutscht sind, einen Bach umgeleitet und eine Brücke zerstört haben. Bei seiner Rückkehr ist der Strom wieder da. Während seiner Hausarbeiten wird ihm zum wiederholten Male bewusst: Er vergisst immer wieder, was er gerade tun wollte oder warum er etwas tat. Zugleich begleitet ihn die Angst, sein Haus könnte infolge des Unwetters abrutschen. Herr Geiser macht für alle Fälle eine Verfügung für seine Erben und widmet sich wieder seinen Zetteln. Die Langeweile kehrt zurück.

Ende der Handlung – Ausbruchsversuch und Schlaganfall

Eines Morgens nimmt er doch seinen Rucksack und steigt zur Passhöhe empor. Ohne Hast und ohne Hunger, mit der Gewissheit, sein Plan sei durchführbar. Kaum ist er im anderen Tal angelangt, kehrt er um und wandert durch die Nacht zurück. Keiner soll von seinem Ausflug erfahren, aber er weiß jetzt, dass er das Tal hätte verlassen können. Anderntags erwacht er am Fuß der Treppe. Er muss gestürzt sein, kann sich jedoch nicht erinnern. Er hat keine schweren Verletzungen, nur sein linkes Augenlid ist und bleibt taub. Herr Geiser geht weder ans Telefon noch an die Türe. Er klebt die Zettel wieder an die Wand, obwohl er vergessen hat, warum. Ein Druck liegt auf seiner linken Schläfe, und auch sein Mundwinkel ist gelähmt.

Die Matterhornbesteigung mit seinem verstorbenen Bruder Klaus tritt vor sein inneres Auge und er erinnert sich an die Gefahr damals. Seine Tochter Corinne besucht den vom Schlaganfall Gezeichneten, fragt wegen der geschlossenen Fensterläden, den Zetteln an der Wand und dem Hut, den er in der Wohnung trägt. Herr Geiser jedoch fragt nicht mehr: Er hat erkannt, dass die Natur keine Namen und die Gesteine sein Gedächtnis nicht benötigen.

Interpretation – Resignation und lautloser Niedergang

Die Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" unterscheidet sich vor allem durch ihren resignativen Grundton und die reduzierte Sprache deutlich von Frischs vorangegangenen Werken. Lakonische Sätze umreißen das Leben eines zurückgezogenen, einsamen Mannes in der Fremde, der ohne Aufgabe vor sich hinlebt und von diversen Ängsten geplagt wird. Dieser Herr Geiser hat seinen eigenen fortschreitenden Niedergang erkannt: Die Angst vor dem Verlust seines Gedächtnisses korrespondiert mit der Angst vor dem Rutschen der Hänge – so kann in seinem Haus ein Bild seines geistigen Vermögens, von Sicherheit und Fortbestand gesehen werden. Die Angst vor der Zerstörung seines Hauses ist die Angst vor dem Tod, denn nichts anderes stellt der Verlust seiner Erinnerungen dar.

Handlung und Szenerie der Erzählung von Max Frisch

Handlung und Szenerie sind durch Analogien und eine tiefe Symbolik geprägt. So korrespondiert die Außenwelt stark mit der Innenwelt des Protagonisten – nicht nur die Zufahrtsstraße ist verschüttet, Geiser findet auch in seinem Geist keinen Zugang mehr zu den Mitmenschen. Sein schwindender äußerer Aktionsradius entspricht dabei der Reduktion seines inneren Empfindens. Die Zerbrechlichkeit seines Daseins wiederum äußerst sich in seinem Tun: In dem Aufschichten von Türmen aus Knäckebrot, quasi Kartenhäusern, deren Bestandteile noch fragiler und nichtssagender als Spielkarten sind. In dem Anhäufen von ebenso trockenem Wissen, das keinerlei Aufschluss über den Inhalt oder Sinn seines Lebens gibt, weder praktischen noch theoretischen Nutzen für ihn hat. In dem Anheften der Zettel an der Wand, um den drohenden Verfall seines Gedächtnisses aufzuhalten. Dieser spiegelt sich zugleich in der Natur wider, in der Erosion und dem Unwetter.
Die Zusammenhänge liegen außerhalb der Wahrnehmung des Protagonisten, versinnbildlichen seinen Verfall und verleihen ihm den Charakter einer Parabel.

Max Frisch – Monotonie und das Ende von Geschichte

In seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" schrieb Frisch, ein Mann habe eine Erfahrung gemacht, nun suche er die passende Geschichte dazu und probiere diese an wie Kleider. Der Protagonist Geiser dagegen erlebt keine Geschichten mehr, sein Leben ist auf die bloße Existenz, auf die sture Ausführung von Gewohnheiten beschränkt. Er hat nichts mehr zu erzählen: Seine persönliche Geschichte, seine Biografie ist an einem Ende angelangt. Die Natur um ihn erscheint ebenso wie das von ihm aus Büchern gesammelte und an die Wand gepinnte Wissen leblos. Seine Erinnerungen sind ohne jeden Glanz und Emotion, Besuch langweilt ihn, innerhalb der Dorfgemeinschaft ist er ein Fremder geblieben. Sein Vorname bleibt verborgen. Der Marsch in das andere Tal stellt den Versuch eines Ausbruchs aus dieser Monotonie dar, doch die Welt da draußen braucht keinen Herrn Geiser mehr. Was soll er in Basel? Sein Rückzug ist ein endgültiger, Hoffnung gibt es keine.

Der Mensch erscheint im Holozän – biografische Deutung

Wie jedes Werk von Max Frisch besitzt auch "Der Mensch erscheint im Holozän" autobiografische Elemente. So besaß der Autor selbst ein Haus im Tessin, bediente sich bei der Arbeit an seinen Romanen einer ausgefeilten Zetteltechnik und war bei der Niederschrift im fortgeschrittenen Alter. Die Lähmung des Augenlids, die Herr Geiser nach dem Schlaganfall erleidet, hatte Frisch von Kindheit an. In einer biografischen Deutung kann die Erzählung somit als Ausdruck eines schriftstellerischen Endpunktes von Max Frisch gesehen werden: Was gibt es noch zu sagen, was er nicht gesagt hat, was bleibt im Angesicht des fortschreitenden Alterns?

Auf der objektiven Ebene stellt die Erzählung eine resignative Parabel über den modernen Menschen dar, dessen Utopien und Träume einer Vereinsamung und Orientierungslosigkeit gewichen sind, dem die verwissenschaftlichte Natur keinen Trost mehr spendet, dessen Kommunikation sich in Sprachspielen, in Beliebigkeit erschöpft – und dessen Leben schließlich vor der Sinn- und Bedeutungslosigkeit kapituliert.

Autor seit 9 Jahren
42 Seiten
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