Max Frisch – Wilhelm Tell für die Schule
Mit tiefgründigem Witz erzählt Max Frisch die Geschichte des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell neu und legt den darin verborgenen Mythos frei.Inhalt – Ritter Konrad von Tillendorf alias Grisler
Der Ritter Konrad von Tillendorf – oder ein anderer, der Grisler hieß – reist im Auftrag der Erben von König Rudolf von Habsburg nach Altdorf. Der melancholische Konrad/Grisler ist ein gutmütiger Charakter, dem die Enge der Schweizer Bergwelt allerdings sehr zusetzt. Zu allem Überdruss verzögert sich seine diplomatische Mission wegen einer Erkrankung des Freiherrn von Attinghausen. Er besucht eine kaiserliche Baustelle am Gotthard. Der unbeliebte Tiroler Bauführer hat der Burg den Namen "Twing-Uri" verliehen. Um die Urner nicht zu provozieren, entlässt Konrad ihn auf der Stelle – der Name bleibt jedoch und lebt als Gerücht fort.
Die sturen Bewohner von Uri und der Jäger Tell
Konrad oder Grisler verbringt die Abende mit dem jungen Adligen Rudolf und der alten Jungfer von Bruneck. Er wundert sich über die Eigenheiten und Verschlossenheit der Einheimischen. Die seit 1231 mit einer Freiheitsurkunde des Königs bedachten Talbewohner verhalten sich misstrauisch, fast schon feindlich gegenüber dem Ritter. Von Pfarrer Rösselmann hört er zudem Beunruhigendes: Der Vogt von Altzellen wurde hinterrücks mit einem Spaten erschlagen, hartnäckig halten sich die angeblichen Gräueltaten eines anderen kaiserlichen Stellvertreters im Gedächtnis der Urner.
Von wiederkehrenden Kopfschmerzen und den Redeschwällen des Fräuleins von Bruneck geplagt, begegnet Konrad/Grisler am Fluss erstmals dem Jäger Wilhelm Tell. Ohne seinen Gruß zu erwidern, zieht der an ihm vorbei. Der Freiherr von Attinghausen lässt ihn bis in den Juli hinein warten – und empfängt derweil den Landamman von Schwyz, einen Untertan von König Rudolfs Erben. Der Ritter ist erzürnt, unterlässt jedoch Sanktionen. Endlich findet die Konferenz statt: Der schwerhörige Greis von Attinghausen weigert sich, Rudolfs Erben anzuerkennen und verweist auf die Zeiten vor dem König. Das Angebot des Ritters verhallt.
Wilhelm Tell und die Zeremonie mit dem Hut
1. August 1291: Während die Verschwörer auf dem Rütli oder auch in Brunnen zusammentreffen, freut sich der mittlerweile an Gelbsucht leidende Konrad/Grisler auf seine Abreise – die Grundherren entziehen sich auch nach dem Tod des alten Freiherrn jeglichen Verhandlungen. Bleibt die übliche Zeremonie mit dem Hut auf der Stange.
Im Aufbruch begriffen, erreicht ihn eine ärgerliche Nachricht: Seine Waffenknechte haben einen Mann gefasst, der den Hut nicht grüßen wollte. In dem Gefangenen erkennt er Tell wieder. Die Menge macht diesen nervös – erst entschuldigt er sich, dann verweigert er sich von der aggressiven Stimmung aufgestachelt der kaiserlichen Autorität. Alle Versuche des Ritters, die Lappalie auf sich beruhen zu lassen, scheitern.
Der berühmte Apfelschuss und ein Hinterhalt
Als Tells Junge die Schießkünste seines Vaters rühmt, erwidert Konrad/Grisler scherzhaft, der solle ihm doch den Apfel vom Kopf schießen. Seine Worte werden ernst genommen: alles fleht und betet um den Knaben, und Tell legt an. Im letzten Moment nimmt der perplexe Ritter den Bolzen aus der Armbrust. Bereits im Gehen folgt die berühmte Frage nach dem zweiten Pfeil.
Erneut versucht sich der in seiner Schützenehre gekränkte Tell vor der Menge zu profilieren: Auf seine Antwort, der Pfeil hätte dem Vogt gegolten, bleibt dem nichts anderes übrig, als ihn festzusetzen. Konrad/Grisler lässt den aufrührerischen Jäger bewacht am Ufer zurück und rudert mit seinen beiden Waffenknechten über den stürmischen See. Die Übernachtung in Brunnen kostet den Ritter wertvolle Zeit – im Passweg zwischen Immensee und Küßnacht trifft ihn der Bolzen Tells.
Wilhelm Tell für die Schule – Interpretation
Die Erzählung stellt eine originelle Demontage des nationalen Mythos Tell dar. Sie erfolgt aus der Perspektive des Konrad oder Grisler: Die kränkliche und gutmütige Figur spottet jenem Bild des grausamen Gessler, wie es in Schillers verklärendem Dramenstück und der öffentlichen Wahrnehmung vorherrscht. Tell wird im Gegenzug als verklemmter Hinterwäldler, sein "Tyrannenmord" als feiger Meuchelmord dargestellt. Und die Schweizer? Ihnen mangelt es an Edelmut und Freiheitswillen: Rückwärtsgewandt und fremdenfeindlich wehren sie sich gegen alles Neue. Die Enge der Bergwelt spiegelt sich in ihren Köpfen wieder.
Max Frisch spielt in seiner Erzählung mit dem potenziell Möglichen: Anhand der historischen Fakten konstruiert er, was damals wirklich passiert sein könnte. Er bedient sich dabei einer zweigeteilten Struktur. Jeweils zwischen erzählenden Passagen werden 74 im Text verankerte Fußnoten aufgeführt. Diese bestehen aus historischen Quellen – primär dem "Weissen Buch von Sarnen" (1472) und der Chronik des Aegidius Tschudi von 1570 – sowie in nüchterner Sprache gehaltenen Anmerkungen und wissenschaftlichen Belegen.
Max Frisch – Quellen, aktuelle Bezüge und Humor wider das Pathos
Frisch deckt nicht nur Lücken in den Quellen auf und nutzt sie für seine Literarisierung: Indem er beispielsweise auf die beschönigte Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg oder die fortgesetzte Nicht-Integration (Unabhängigkeit) in der UNO et cetera hinweist, schafft er zudem Bezüge zur Gegenwart. In Vergleichen mit dem modernen Rechtsstaat handelt der Vogt nachvollziehbar, in einem häufig noch aktuellen gesetzlichen Rahmen. Und ohne angedichtetes Pathos präsentiert sich die Freiheit des Rütlischwurs als Freiheit der einheimischen Herren, nicht des leibeigenen Volkes. Gleich dem immer wieder durchschimmernden Humor trägt die Sprache zum Spiel der Demaskierung bei: Die häufige Verwendung von "vielleicht" und "wahrscheinlich" und die doppelte Namensgebung des historischen (nicht eindeutig zuzuordnenden) Konrads/Grislers kratzen – neben der rationalen Erläuterung von Zusammenhängen und der Bloßstellung von Fehlinterpretationen – an Glaubwürdigkeit und Glanz des Mythos.
Max Frisch ergänzt Fakten mit Gedanken und Beschreibungen zu einer Geschichte, die letztlich eine ebenbürtige Möglichkeit darstellt – was genügt, den Mythos als solchen zu entlarven und der Lächerlichkeit preiszugeben. "Wilhelm Tell für die Schule" stellt somit ein Plädoyer für den kritischen Geist und wider unkritischen Nationalstolz dar.
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W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)