Der geheimnisvolle Fremde mit den stahlblauen Augen

Ihre Mutter stirbt bei ihrer Geburt, ihr Vater stirbt, als sie 12 ist. Im Waisenhaus wiederum wird sie von einem Kinderschänder bedroht, das kurze Glück bei Adoptiveltern endet wiederum auf tragische Weise. Das Schicksal scheint es mit der hübschen Laura Shane nicht gut zu meinen. Und dennoch: Irgendjemand wacht wie ein persönlicher Schutzengel über sie, wenngleich dieser geheimnisvolle Fremde mit den strahlend blauen Augen nicht willens oder in der Lage war, ihre Eltern zu beschützen.

Allen traumatischen Erlebnissen zum Trotz verliert sie ihren Lebensmut nicht, baut sich Jahre später eine Existenz als Schriftstellerin auf und gründet eine kleine Familie. Gerade als sie anfängt an ihr Glück zu glauben, bedrohen dunkle Mächte ihren Sohn Chris. Und diesmal hofft sie vergebens auf das Eingreifen ihres Schutzengels. Denn dieser liegt plötzlich schwerverwundet - und keinen Tag seit ihrer ersten Begegnung gealtert - vor ihrer Tür und erklärt der entsetzten Laura, dass das Schicksal der Menschheit von ihr abhängt, ehe er in Ohnmacht fällt und eine Horde gewissenloser Killer das Haus zu stürmen beginnt …

Spannender Plot, schwache Charakterisierungen

Neben Stephen King zählt er zu den Superstars der Horrorliteratur: Dean Koontz, der 1981 mit dem Roman "Flüstern in der Nacht" den Durchbruch schaffte. Mittlerweile hat er dutzende Bestseller verfasst und ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Oftmals wurde er als "schärfster Rivale" Stephen Kings bezeichnet, was dem Umstand geschuldet war, dass die beiden Autoren in den 1990er Jahren das Horrorgenre beackerten. Werksvergleiche zwischen King und Koontz sind allerdings blühender Unsinn, da sie sowohl stilistisch, als auch in der Erzählstruktur und den Charakterisierungen völlig unterschiedlich arbeiten.

Der Rezensent war vor vielen Jahren dezidierter Stephen-King-Fan, vermochte mit den Dean-Koontz-Romanen jedoch kaum etwas anzufangen. Zu klischeehaft, zu sehr mit erhobenem Zeigefinger moralisierend, zu wenig ausgefeilt und stets nach ähnlichem Muster verlaufend erschienen ihm dessen Geschichten. Die einzige Ausnahme hiervon bildete sein Roman "Schutzengel", der zumindest einen verblüffend originellen Plot bot. Eines vorneweg: Diese Rezension enthält keine Spoiler und es wird dringend empfohlen, vor dem Lesen des Buches keine anderen Kritiken zu lesen, die leider meist den großen Plottwist vorweg nehmen und somit das Lesevergnügen drastisch verringern. Dieser Roman bezieht seine Spannung wesentlich von der Enthüllung, wer oder was der "Schutzengel" tatsächlich ist.

Selbst nach dieser Offenbarung, die den Leser im gleichen Maße wie Protagonistin Laura überraschen wird, verliert die Geschichte nicht an Spannung, sondern nimmt im Gegenteil erst so richtig Fahrt auf. Über Plausibilität und Logik des Plots kann man natürlich diskutieren, doch ohne künstlerische Freiheiten wäre die Phantastik ein obsoletes Genre. Leser, die mit dem Akzeptieren weit hergeholter Prämissen nicht zurande kommen, sollten sich diesen Thriller gänzlich sparen. Sie könnten spätestens bei der großen Enthüllung des Geheimnisses vom vehementen Kopfschütteln ein Peitschenschlagsyndrom erleiden.

Während das zentrale Handlungselement, um das herum die Geschichte aufgebaut wird, ungemein spannend und originell ist, folgen der Stil und die Charakterisierungen den von Koontz gewohnten Pfaden. Die Sprache ist einfach gehalten, um flüssiges Lesevergnügen zu gewährleisten. Daran gibt es weder etwas zu rütteln, noch zu kritisieren. Mit schöngeistiger Literatur hat dieses Genre nun einmal nichts am Hut. Nervig ist hingegen ein anderer Punkt, nämlich die überdramatisierte Lebensgeschichte der Protagonistin. Der Blitz schlägt in ihrem Leben nicht ein- oder zweimal, sondern dutzendfach ein. Unablässig sterben geliebte Menschen und versuchen Männer, sie zu vergewaltigen (übrigens ein beliebtes Motiv in Koontz-Büchern, wo ungefähr jeder zweite Mann potenzieller Vergewaltiger und Kinderschänder ist). Aus diesem Material stricken TV-Sender locker zwei Dutzend TV-Dramen, bei denen Frauen hilflose Opfer männlicher Gewalt werden, bis sie am Schluss den Mut finden, ihren Peiniger abzuknallen. Das Problem daran ist das Offensichtliche: Mit derlei Schicksalsschlägen soll grenzenlose Sympathie erweckt werden. Ein allzu billiges Stilmittel, das die mangelnde Charakterisierung wettmachen soll, was natürlich nicht klappt. Um einen politisch unkorrekten Schlenker in die Realität einzulegen: Nur deshalb, weil ein Mensch Opfer von Gewalt wurde oder behindert ist, muss er einem nicht zwingend sympathisch sein. Oder um beim Buch zu bleiben: Lauras Verwandte und Freundinnen sterben wie die Fliegen, doch enger verbunden fühlt sich der Leser mit ihr deshalb nicht. Allzu glatt wird sie wie eine strahlende Heldin präsentiert: Schön, intelligent, erfolgreich (Schriftstellerin, natürlich!), tapfer, sich für andere aufopfernd.

Ein anderes Problem stellen die altklugen Kinder dar, wie sie leider in unzähligen anderen Romanen und Filmen zu finden sind. Lauras Freundinnen in ihrer Teenie-Zeit oder ihr eigener Sohn Chris reden und benehmen sich nicht wie Kinder bzw. Jugendliche, sondern wie Erwachsene in Kinderkörpern. Warum sich Autoren scheuen, Kinder einfach wie Kinder zu zeigen, die auch richtig fies sein können, in Stresssituationen zu heulen beginnen oder Mist bauen, ist dem Rezensenten ein Rätsel. Vielleicht liegt es an künstlerischer Bequemlichkeit. Kaum weniger auffallend sind die eindimensionalen Figuren, mit Ausnahme des "Schutzengels" selbst.

Keinesfalls soll nun aber der Stab über diesen Roman gebrochen werden. Das Buch ist durchwegs spannend, bietet provokante Gedankenexperimente und wird ab und an durch grimmigen Humor aufgelockert. Erfreulicherweise bietet der Thriller von Beginn weg spannende Unterhaltung, wird doch gleich auf den ersten Seiten ein bizarrer Überfall auf einen Arzt geschildert, bei dem der Täter kein nachvollziehbares Motiv an den Tag zu legen scheint. Im Verlaufe der späteren Handlung wird dann jedoch der Grund für den Überfall ersichtlich und erweist sich als logisch.

Kurzum: "Schutzengel" ist kein rundum gelungener, aber ein interessanter Roman mit einer originellen Prämisse. So man über die schwachen Charakterisierungen, die unrealistische Darstellung von Kindern und die unentwegte Dämonisierung von Männern, die sogar Alice Schwarzer zu dick aufgetragen erscheinen dürfte, hinwegsehen kann, erwartet den Leser unterhaltsame Lektüre.

Originaltitel: Lightning

Autor: Dean Koontz

Veröffentlichungsjahr: 1988 (USA), 1990 (deutsche Übersetzung)

Seitenanzahl: 543 Seiten (Taschenbuchausgabe)

Verlag: Erstmals erschienen bei Ullstein

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