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Von der Sexualität als selbstbefreiende Kraft

Bollmann kapriziert sich auf einige Werke – Werther, Römische Elegien, Wahlverwandtschaften und Dichtung und Wahrheit -, während andere Bücher nur marginal abgehandelt werden. Der vielgelesene Literatur-Sachbuchautor schreibt viel über Goethes politischen Werdegang und sein diplomatisches Öffentlichkeitsverhalten, hält das Thema dann vor der Zeit für abgeschlossen und lässt Nicht-Kenner darüber im Ungewissen, wie die Karriere des emsigen, pflichtbewussten Politikers weitergeht. Oder hat er sich etwa ganz in sein literarisches Leben zurückgezogen, dass durch die Verbindung mit Christiane Vulpius eine zusätzliche Würze, eine Erotik großen Stils erhielt? Bollmann versteigt sich dazu, Goethe als Tabubrecher und sexuellen Befreier zu stilisieren. Schon der junge Goethe hielt es für nötig, schlüpfrige, gnadenlos frivole Gedichte zu produzieren. Die Römischen Elegien (inoffizieller Titel: Erotica Romana) erreichen dann den sinnlichen Gipfel und machen den genussfreudigen Zeitbeobachter zu einem sexuellen Halbgott für Insider mit besonderer Erlebnistiefe, die ihn für seine entblößende Offenheit feiern, wie in den 1960er-Jahren Henry Miller als Entdecker des Obszönen gefeiert wurde. "Die Entdeckung des Sex als Kreativkraft", vielleicht auch der Produktivkraft. Aber was für die damalige Zeit spektakulär war, berauscht heute keinen mehr.

 

Stefan Bollmann

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Work-Life-Balance statt Burn-Out

Goethe, ein Spezialist in der "Professionalisierung der Herzensangelegenheiten", wird nicht nur als befreiter, sich selbst entfaltender Parvenu-Bohemien empfohlen: Er ist auch für Menschen, die einem gediegenen, delegationserprobten Beamten- oder Konzernleben verpflichtet sind, von Vorteil, zumal er die "entschlossene Tätigkeit" ausgerufen hat. Aber der Hauptzweck des Berufs, die finanzielle Daseinssicherung, darf nicht überhand nehmen, sonst droht ein Burn-Out. In diesem Sinne ist der Epikureer Goethe der Vater der "Work-Life-Balance", der Ausgeglichenheit von Arbeit und Privatleben. Von Letzterem ist Bollmann partiell hingerissen, das betrifft auch die Verlagerung von Goethes Hauptquartier zum Weimarer Frauenplan. Der Autor lässt sich folgendermaßen vernehmen: "Goethes Haus am Frauenplan zu besuchen, kann in dieser Hinsicht beinahe so etwas wie eine therapeutische Wirkung haben." Immerhin haben diese Plaudereien, die nicht selten das Geistreiche streifen, den Nutzen, dass man in diesem etwas verklatschten, schulmeisterlichen Buch auch Details liest, die man zuvor nicht wusste. Insofern sorgt Bollmann sogar für einen Erkenntnisgewinn. Was aber für eine Erkenntnis springt bei der Analyse der Wahlverwandtschaften heraus? Dass Emotionen möglicherweise chemisch gesteuert werden? Nun ja, es ist ein seltsames Buch entstanden, das bestenfalls durch viel Wissen und einen gewandten, nicht überladenen Stil zu beeindrucken vermag. Prinzipiell Interessierte mit Fachkenntnissen werden allein durch den Titel schon abgeschreckt. Das Buch ist wohl hauptsächlich für jene halbgebildeten Leser geschrieben, die sich gerne an der Ratgeber-Literatur orientieren.

Stefan Bollmann: Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist. 2016 Deutsche Verlags-Anstalt, München. 282 Seiten.

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