Thomas Mann: Tristan - Künstler contra Bürger
Thomas Mann konfrontiert einen lebensschwachen Künstler mit einem energiegeladenen, erfolgreichen Bürger. Am Ende verlieren beide.Die ästhetische Welt
Die zur Karikatur geformte Künstlerfigur Spinell hasst das Leben schon allein deshalb, weil es wirklich ist und keine subtilen ästhetischen Genüsse verschafft: die Kunst bildet die einzig mögliche Legitimation seiner Existenz. Ohne jegliche Energie, verfügt der überreflektierte Spinell über eine bizarre körperliche Konstitution, die übersteigerte Weltflucht geradezu begünstigt: rein optisch ähnelt er einem "verwesten Säugling". Die Welt der nackten Tatsachen ist ihm nicht nur bedeutungslos, er hält es auch für zulässig, die Wirklichkeit so umzuformen, dass sie seiner ästhetischen Sicht entspricht. Aufgrund der Mangelhaftigkeit der Realität erzeugt er eine künstlerisch überhöhte Scheinwelt, die Fragmente der ursprünglichen Wahrnehmung nur aufnimmt, um sie ästhetisch zu verfeinern. Die Dialoge haben für ihn nicht die Funktion eines geistigen Austauschs oder der Informationsvermittlung, sondern sie dienen dazu, eine autonome Traumlandschaft zu schaffen, die mit einigen magischen Reizen gesättigt ist.
Die bürgerliche Welt
Die männlichen Klöterjahns hingegen – Vater und Kleinkind – haben eine unverwüstliche Lebenskraft. Das Kind und das väterliche Geschäft werden in einem Atemzug als "blühend" bezeichnet und damit dem gleichen Lebensbezirk zugeordnet: sie gehören der kraftvoll-dynamischen Sphäre an. Aufgrund des Fehlens von Feingefühl bringt der Kaufmann auch wenig Verständnis für das bedenkliche Husten seiner Gattin auf, deren Krankheit er auf fatale Weise herunterspielt. Bei seiner zweiten Ankunft im Sanatorium lässt er sich in einer Aufwallung löwenartiger Fresslüsternheit zunächst Buttersemmeln geben, bevor er sich nach seiner in Agonie liegenden Frau erkundigt.
Nach Empfang eines Rachebriefes von Spinell, der mit dem Kaufmann geistig abrechnen möchte, reagiert Klöterjahn mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein. Doch während er den verschüchterten Dichter niedermacht und triumphiert, offenbart sich zugleich seine Niederlage, die ihren Ursprung im Mangel an Erkenntnis hat: völlig unvorbereitet stirbt seine Frau. Sein blinde Vitalität verhindert eine klare Einschätzung der Zusammenhänge.
Die Zwischenwelt
Die kränkelnde Frau Klöterjahn, die durch ihre morbide Zerbrechlichkeit an Reiz gewinnt, ist zwischen den beiden Lagern angesiedelt, läuft aber allmählich, einer Verführung erliegend, zu Spinell über. Der Schriftsteller erkennt ihre Empfänglichkeit für klassische Musik und möchte die letzte Spanne ihres Lebens versüßen. Da es Spinell für ausgemacht hält, dass Frau Klöterjahn, gemäß seiner Dekadenztheorie, dem Untergang geweiht ist, betrachtet er es als sein Geschäft, ihr den Tod durch ästhetische Sublimierung zu erleichtern. Während der vorübergehenden Abwesenheit ihres Gatten scheint sie ihm völlig zu entgleiten, sie wird immer zugänglicher für Spinells musikalische Verführung. Aufgefordert zum Klavierspiel, lässt sie auf Spinells Geheiß den zweiten Tristan-Akt ertönen und erlangt dadurch einen von Wagner gespendeten metaphysischen Trost, der sie von der Individualität, von ihren irdischen Leiden erlöst und sie mit der ewigen Einheit verbindet. Zum Zeitpunkt der Niederschrift (1902) hatte der Tod für Thomas Mann etwas durchaus Positives: er bedeutete die Verschmelzung mit der Totalität des Lebens. Die mystische Vereinigung in der Oper kontrastiert allerdings zu der Vereinzelung der beiden Figuren, die niemals zueinander finden.
Die Konfrontation
Bei der plakativen Gegenüberstellung der beiden Hauptakteure, die nicht aus ihrer Sphäre ausbrechen können, gibt es letztlich keinen Sieger, obwohl kleine Siege errungen werden. Spinell verführt Frau Klöterjahn zur Kunst, wird aber von ihrem Mann verbal abgekanzelt und flüchtet am Ende vor der schauderhaften Robustheit des Kindes. Die Verführung, die sich unter dem "tödlichen Kusse der Schönheit" vollzieht, ist ein Rachefeldzug gegen den "Todfeind der Schönheit", der wegen des hohen Potentials an Rohheit überlegen ist. Der lebensschwache Ästhet rächt sich dadurch am gemeinen Leben, weil er ihm unterlegen ist – dies bleibt allerdings Spinells einziger Triumph. Dem vitalen Klöterjahn hingegen fehlt jegliches Verständnis für den Zauber ästhetischer Phänomene, so dass er seiner Frau gegenüber kein Einfühlungsvermögen aufbringt und ihre seelisch-geistigen Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Diesen Mangel kompensiert der mit lächerlichen Zügen versehene Autor, der sie von den Fesseln der Alltäglichkeit befreit, das Arrangement mit dem Bürgertum aufweicht und sie mit der Süße wagnerischer Musik in Verbindung bringt. Versunken in schwärmerische Todesmystik, geht die zarte Schönheit vollends zugrunde. Das Einwirken glückverheißender Musik, die einen ekstatischen Taumel entfacht, raubt ihr die letzten Lebenskräfte und lässt sie eintauchen in den von Schönheit überstrahlten Tod. Letztlich kommen die beiden Gegenspieler dieser ambivalenten Frau nicht wirklich nahe, da sie nur eine Seite ihres Wesens berühren.
Thomas Mann: Die Erzählungen. Fischer: Frankfurt 2005.
Bildnachweis: © Das Bundesarchiv/Wikipedia
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)