Unterkunft – ein Roman von Julia Veihelmann
Eine junge Frau versucht, mit ihrem Leben und ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen.Unterkunft (Bild: Braumüller Verlag)
Eine Unterkunft ist laut Definition eine "geschützte Stelle, in der Regel ein Gebäude, die zumindest dem Übernachten dient". Das kann ein Zelt, ein Wohnwagen, ein Hotelzimmer oder sogar eine Villa sein. Dennoch: Im Wort Unterkunft klingt immer auch ein bisschen Provisorium an, etwas Vorläufiges, das sich jederzeit ändern kann. Vielleicht liegt es an der Etymologie des Begriffs: "kunft", das wortgeschichtlich mit "kommen" zusammenhängt, steckt auch in Zukunft, also dem, was kommen wird, das Unbekannte, das Unerwartete.
Das Provisorium ist für Julia Veihelmanns Protagonistin Tabea ein Lebensentwurf; keiner, für den sie sich bewusst entschieden hat, aber auch keiner, dem sie ernsthaft zu entkommen sucht. Diese Tabea, eine junge Studentin (oder Ex-Studentin) driftet durchs Leben beziehungsweise durch die Möglichkeiten ihres Lebens, während sie in der tristen Nachsaison auf einer dänischen Insel im "vrandrehjem" hängenbleibt – zusammen mit ein paar anderen gestrandeten Existenzen, die ebenso ziellos in den Tag hineinzuleben scheinen. Da ist der schweigsame Engländer, der seine Frau über Nacht verlassen hat, da ist eine junge Mutter, die mit der Erziehung ihrer dreijährigen Tochter hoffnungslos überfordert ist. Was die Menschen antreibt, wo sie herkommen und wohin es sie zieht, wird allenfalls angedeutet, zumeist aber in einer in einer irritierenden Schwebe belassen.
Freundschaften und Affären
Einziger fester Bezugspunkt im Leben der Hauptfigur Tabea, die bald als Ich-Erzählerin von den Ereignissen aus ihrer Perspektive berichtet und mal in der dritten Person geschildert wird, ist die Vergangenheit, auf die sie sich immer wieder bezieht. Der Leser erfährt von einem Konrad, der mit ihr – rein platonisch – befreundet war und der mittlerweile, Folge eines Autounfalls, im Rollstuhl sitzt. Es gibt eine Freundin, die ihr vor vielen Jahren bereits Unterkunft, damals in Köln, gewährt hat, und mit der sie eine kurze Affäre hatte.
In der Gegenwart jedoch gibt es keine Beziehung in ihrem Leben; sie scheint es nicht als Mangel zu empfinden, denn diese Ungebundenheit, dieses Niemandem-verpflichtet-Sein, gewährt ihr bei aller Tristesse, die diese Lebensform (auch) bereithält, eine Freiheit – die sie dann doch nicht nutzt. Sie könnte etwas tun – die Möglichkeit ist zu einem Grundprinzip in Tabeas Leben geworden; Möglichkeiten, die dann aber aus Angst vor Entscheidungen doch nicht Wirklichkeit werden.
Darüber hinaus schottet sie sich vor allzu großer Nähe ab. Mit den Menschen, die sie in ihrer Gegenwart kennengelernt hat, bleibt sie streng beim Sie; ein Du empfindet sie bereits als lästiges, wenn nicht gar unzulässiges Eindringen in ihre Privatsphäre. Annemarie, diese nicht näher beschriebene, vermutlich nur wenig ältere Mutter des dreijährigen Mädchens, bleibt ihr also fremd, obwohl sie die einzigen deutschen Feriengäste in dieser dänischen Unterkunft sind und sich jeden Tag – zum Kochen, zum Rauchen - treffen.
Wenigstens auf den endlos langen einsamen Strandspaziergängen versucht Tabea, ihr Leben zumindest gedanklich auf die Reihe zu bekommen. Doch sobald sie in ihre Unterkunft, ein wohl eher tristes Dachzimmer, zurückkehrt, ist das Chaos, die Unentschlossenheit, wieder übermächtig.
Verantwortung führt zur Katastrophe
Die Unfähigkeit, sich zu binden, manifestiert sich nicht zuletzt in den zahlreichen Jobs, die Tabea im Laufe ihres Lebens angenommen hat. Als Kellnerin hat sie gearbeitet, einmal sogar als Pornodarstellerin. Aber auch hier ist sie mit einem nachgerade geschäftsschädigenden Desinteresse ihrer "Arbeit" nachgegangen. In Dänemark war sie als Haushaltshilfe tätig und hat, aber auch das wird eher zwischen den Zeilen angedeutet als explizit erklärt, ein Verhältnis mit dem Sohn des Hauses angefangen.
Veihelmann bietet ihren Lesern keine leichte Kost: Kaum glaubt man, ihrer Hauptfigur habhaft zu werden, entfernt sie sich wieder, igelt sich ein, entgleitet ihrer Umgebung. Dieses Un(be)greifbare ist ebenso irritierend wie ihre Freigeistigkeit faszinierend. Obwohl in einer Unterkunft lebend, ist Tabea im Grunde unbehaust: eine Metapher für viele Lebensentwürfe in diesen Zeiten, in der manche(r) aus dem Suchen nicht mehr herauskommt und das Ziel ebenso weit entfernt bleibt wie der Horizont. Vielleicht ist es die beste und sicherste Art eines unverbindlichen Daseins: Denn sobald Tabea, wenn auch eher unfreiwillig, in eine Verantwortung hineingedrängt wird, endet es in einer Katastrophe. Als Annemarie sie bittet, auf ihre Tochter aufzupassen, reicht ein Augenblick, in dem Tabea nicht achtgibt, und das Mädchen verschwindet spurlos.
"Es ist alles in Ordnung", lautet der letzte Satz. Eine glatte (Lebens-)Lüge. Aber die stammt ausnahmsweise nicht von der Protagonistin.
Julia Veihelmann: Unterkunft. Braumüller Verlag Wien, 2013, 365 Seiten, 19,90 Euro.
© Rainer Nolden
Bildquelle:
W. Zeckai
(Wie macht man eine Lesung erfolgreich?)