"Der Ring des Nibelungen" muss es sein, darunter macht es Kurt Schwemmers nicht. Für die vier Abende der Ringaufführungen versammelt er eine handverlesene Schar von Freunden und Kollegen in der Dresdener Semper Oper. Das Buch von Karin Nohr kommt aber weitgehend ohne Beschreibungen der Opernaufführungen aus. Was davor, danach, dazwischen geschieht, was das Erlebnis mit den beteiligten Personen anstellt, das ist es was Nohr interessiert, was sie in äußerst kurzweilig wechselnden Perspektiven erzählt. Gleich vorweg: Der Leser muss kein Wagnerkenner sein, um dieses Buch zu lesen, er braucht noch nicht einmal den Plot der vier Ringopern zu wissen, denn – lustiger Kniff der Autorin – eine der Ringbesucherinnen ist Lehrerin und lässt ihre Klasse Inhaltsangaben, Nacherzählungen oder Umdichtungen der Opernstoffe schreiben. Jeweils einer dieser Aufsätze ist den Kapiteln vorangestellt, die sich mit einer der Opern befassen. Allein das Lesen dieser "Schulaufsätze", in denen Wagners Figuren und Libretti auch einmal kritisch mit "Harry Potter" oder "Der Herr der Ringe" verglichen werden, lohnen schon, das Buch zu lesen. Da Ulrike Diesterkamp eine zehnte Klasse unterrichtet, wird der Leser so auf angenehm unabgehobene Weise mit den Inhalten der Opern vertraut gemacht.

 

Die Gruppendynamik eines Wagnerkreises

 

Sehr unterschiedlich sind die Beweggründe, die die Dresdener Wagnerianer motivieren, an Kurt Schwemmers Ringidee teilzunehmen. Da ist einmal Dirk Blasius mit seiner Frau Brigitte, die eigentlich nur teilnehmen, weil Dirk bei Schwemmers promoviert und er auf dessen Wohlwollen angewiesen ist. Blasius ist ein Blender, der eigentlich nur aufgrund der Fähigkeiten seiner Frau promovieren kann, die seine chaotischen, literaturwissenschaftlichen Ergüsse in eine wissenschaftliche Form bringt.

Thomas und Ulrike Diesterkamp haben beide eine enge Beziehung zu Schwemmers und sehen die Ausflüge nach Dresden auch als emanzipatorischen Akt gegenüber ihrem anhänglichen Sohn Nico. Für sie sind die Opernbesuche Ausgangspunkt für einen Relaunch ihrer Beziehung, die aus verschiedenen Gründen in einer schwierigen Situation steckt.

Annegret schließlich, Ärztin und Freundin von Schwemmers Frau Eva, sucht ebenfalls einen Neustart, obwohl der frühe Krebstod ihres Mannes schon Jahre her ist. Ihre Tochter Lena will sie erst begleiten, weil sie eine Arbeit in der Schule über die Wagneropern schreiben will, steigt dann aber aus dem Projekt aus, genau wie Eva das vorhergesagt hatte.

Eng, aber nicht sklavisch hält sich Nohr an die Perspektive, die Geschehnisse in den Zweigesprächen der Paare – bei Annegret als innerer Monolog – bei der Rückfahrt der Paare von den Aufführungen zu spiegeln. Die Beziehungen der Personen untereinander werden hier nach und nach vom Schein entkleidet und mit Wirklichkeiten konfrontiert.

 

Ein Roman nach dem Zwiebelschalenprinzip

 

Wie Nohr das macht, zunächst die Paarbeziehungen, dann die Einzelpersonen und schließlich die Interaktionen der Personen innerhalb der Gruppe von ihren, dem äußeren Schein geschuldeten Schichten zu entkleiden, und schließlich die Beweggründe in den tieferen Schichten frei zu legen, das hat etwas vom Schälen einer Zwiebel. Erst wenn die letzte Schalenschicht entfernt ist, dann kann man sehen, ob innen drin etwas faul ist, in so einer Zwiebel, in so einem Menschen, in so einer Beziehung. Und da gräbt sie so einiges aus, was die Beziehungen der Protagonisten so nach und nach in völlig neuem Licht erscheinen lässt. Mehr soll hier inhaltlich nicht verraten werden, denn das würde das Zwiebelschalenprinzip seines Sinnes berauben. Soviel nur: Wie in ihrem Debütroman "Herr Merse bricht auf" bleibt auch in Nohrs neuem Buch kein Stein auf dem anderen. Alles muss neu geordnet werden.

Nohr hat ihren Roman streng durchkomponiert, zunächst nach den Opern, dann nach der Rezeption bei den Heimfahrten, in die aber schon mehr Gruppendynamik als Wagnerinterpretation einfließt und schließlich in die Rekapitulation der Auswirkungen auf die einzelnen Paare und Personen. Ein Mosaik, das schließlich zu einem schlüssigen Psychogramm aller Beteiligter führt und das im Leben der Beteiligten so einiges in Bewegung gesetzt hat.

Wie resümiert Kurt Schwemmers im Epilog gegenüber seiner Frau: "Dann sind wir eben zusammen ein Ganzes. Ich der Herumschweifende, du die Bleibende. Und fertig." So viel zum Erkenntnisgewinn des ewig projektierenden Schwemmers. Und ein neues Projekt hat er auch zum Ende des Buches: 36 Stunden Goethes "Faust" von Peter Stein auf DVD. "Das Projekt Dauer-Faust" mit Essensunterbrechungen, Ruhepausen und natürlich Gästen. Ob Nohr ihre Leser damit auf eine auch literarische Fortsetzung des Schwemmersprojektes vorbereitet? Wenn das genauso tiefgründig, teils schon abgründig und doch kurzweilig zu lesen gelingt, dann nur zu!

Autor seit 13 Jahren
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