Erstes Kapitel - Unerwarteter Besuch

Kapitel 1

 

Knightsbridge, 1958

 

Um zwei Uhr nachmittags stand Rupert Taylor Grayson unter einer erbärmlich tröpfelnden Dusche in seinem Appartement in der Halkin Street und war gerade aufgestanden. Nichts war schöner, als nach einer lauen Nacht erst einmal den Schweiß und die Mühsal der vergangenen Stunden abzuwaschen. Nicht dass er als promovierter Taugenichts und angehender Professor für englische Literatur das Nachtleben mit all seinen "Verlockungen" ausgekostet hatte; es gab Wichtigeres als das, er war jung und hatte alle Zeit der Welt, die er am liebsten zum Schlafen nutzte, nachdem sein Studentenalltag eher turbulent verlaufen war. Eine dieser Turbulenzen bestand darin, in Oxford Miles Mayhew kennengelernt zu haben, der ihn mit schöner Regelmäßigkeit heimsuchte, und zwar gerade dann, wenn er seine Ruhe haben wollte (und die wollte er eigentlich immer).

Weniger zartfühlende, oberflächliche Zeitgenossen würden Grayson für blutleer, zerstreut und lethargisch halten. Miles Mayhew nicht. Schon auf der Uni war er wie eine Klette an Rupert gehangen, während sich Professoren, Dozenten und Kommilitonen einhellig fragten, was jemand an einem Mauerblümchen wie ihm finden konnte, wenn man überdies die Griechisch- und Lateindozenten in die Tasche steckte mit seinem Wissen und in den abendlich stattfindenden Zirkeln die Studenten verzauberte mit seinem poetischen Gemüt.

Aber Miles war nicht nur klug und kultiviert, er besaß auch ein großes Herz für Versager wie Rupert Grayson. Für die hatte er ein Gespür, das so untrüglich war wie der dem Blitz folgende Donner. Heimlich mutmaßte Rupert, die Basis ihrer Freundschaft bestünde aus der Berechnung, dass in seiner unscheinbaren Gegenwart Miles' vielfältige Talente und sein properes, gesundes Aussehen noch strahlender zur Geltung kamen, doch er tat ihm unrecht damit. Dennoch konnte er sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Freunde hatte er aufgrund seiner Verschlossenheit noch nie gehabt, und wenn, dann nur Klassenkameraden, die seine Gutmütigkeit und Naivität früher oder später zu ihrem Vorteil ausnutzten und ihn dann mieden wie die Pest. Irgendwann würde auch Miles in Versuchung geführt werden, da war er sich ziemlich sicher.

Seine Körperpflege wurde vom Klingeln der Türglocke unterbrochen. Es wäre verständlich gewesen, hätte er den Besucher warten lassen und darauf gehofft, dass er zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder käme, doch er rubbelte in aller Eile sein störrisches Haar halbwegs trocken und schlang das Handtuch um die Hüften, um triefnass über das altehrwürdige Wohnzimmerparkett zu lavieren, auf das Mrs. Simms, die Vermieterin, so stolz war. Flecken darauf würden einen Kündigungsgrund bedeuten.

Die unverwechselbare, hünenhafte Silhouette des Störenfrieds zeichnete sich vor der Milchglasscheibe der Haustür ab; es war Miles. Als hätte er es vorausgesehen. Außer einen Hausierer oder Vikar hatte er auch keinen anderen erwartet, wenngleich der Kontakt seit ihrem Studienabschluss sporadischer geworden war und auf kurz oder lang ganz einschlafen würde, was Rupert nicht einmal wirklich bedauerte. Er konnte eine Nervensäge sein, dieser Mayhew.

Als Rupert öffnete, zwängte sich Miles gegen seine Gewohnheit ohne Begrüßung, dafür mit einem Koffer beladen an ihm vorbei in die Wohnung. Am Eingang musste er den Kopf einziehen. Neben seiner stattlichen Figur, die sich auf fast zwei Meter erstreckte, fühlte sich Rupert, der ebenfalls recht großgewachsen war, in seiner entblößten Schmalbrüstigkeit wie der Zwerg aus dem Märchen. Trotzdem war Miles sein bester Freund, und genauer gesagt auch sein einziger.

"Bist du allein?" Seine Stimme verriet den Oxfordabsolventen, aber keinen Akzent. Den hatte er sich abtrainiert auf der Universität. Rupert selbst war das trotz aller Bemühungen nie gelungen.

"Selbstverständlich", quakte er in breitestem Surreydialekt, über den er sich insgeheim ärgerte, der aber immer wieder durchbrach. "Hast du mich je in Gesellschaft gesehen?"

Hektisch und seufzend fuhr sich Miles durch das dunkle Haar, das er normalerweise mit Brillantine bändigte und um das ihn Rupert nebenbei bemerkt beneidete.

Eigentlich hätte er nun eine kleine Spöttelei angebracht, die des Freundes Ruf als Eremit untermauerte. Er unterließ es. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Rupert bot ihm eine Zigarette an, die er mit einer fahrigen Handbewegung ablehnte. Sein graublauer Blick aus beseelten, großen Augen durchbohrte ihn und wirkte zugleich merkwürdig unstet.

Rupert fühlte sich bemüßigt, Interesse zu heucheln und schaffte es sogar, ein wenig schroff zu klingen, was ihm umgehend leid tat.

"Was ist los? Hast du einen triftigen Grund, in aller Herrgottsfrühe in meine Privatsphäre einzudringen?"

Der Wutausbruch des anderen imponierte Miles nicht über die Maßen; da war er noch ganz der alte. "Paris", sagte er beiläufig an die Decke, als philosophierten sie über das Wetter. "In einer Stunde fährt ein Zug. Wir werden viel Spaß haben."

Hätte Miles ihm eine Reise zum Mond offeriert, wäre Ruperts Erstaunen nicht größer gewesen. Er starrte Miles mit offenem Mund an. Daran, dass der es ernst meinte, bestand kein Zweifel. Obwohl Miles einen sehr skurrilen Humor sein eigen nannte, ahnte Rupert, dass er auf irgendeine Weise in der Klemme steckte und ihm in dieser Lage nicht nach Scherzen zumute war.

"Ich muss mir das überlegen, Miles …"

"Verflixt, Rupert", explodierte dieser, zum zweiten Mal völlig gegen seine Gewohnheit. Rupert zuckte zurück. "Ich habe keine Zeit für Überlegungen. Und ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen. Ich nehm' dich einfach mit, verstehst du? Ich hab nämlich kein Geld, um das Hotel zu bezahlen!"

"Geld … sag' das doch gleich", murmelte Rupert, täppisch zur Kommode stolpernd. Er wunderte sich, dass der Zeitpunkt des Ausnutzens früher gekommen war als er vermutet hatte und es nicht wenigstens subtiler geschah. Miles Mayhew war der geborene Bonvivant und stammte aus einer reichen und angesehenen Familie, deren Vorfahre ein renommierter Politiker im 17. Jahrhundert gewesen war und von dessen Ruhm die Mayhews heute noch in Gestalt einer Villa in Belgravia zehrten; ein finanzieller Engpass war gewiss nicht der Grund, weshalb er dermaßen aufgelöst bei ihm hereinschneite. "Das kann ich dir geben, einen Augenblick … ich möchte es aber wieder zurückhaben", fügte er hastig, wie um Entschuldigung bittend, hinzu. "Sobald du dazu in der Lage bist, natürlich. Hat keine Eile …"

Abrupt erhob sich Miles und stellte sich Rupert in den Weg, der vor Schreck beinahe das Handtuch fahrenließ. Er umfasste die nackten Schultern des Freundes (die steil abfallenden Melancholikerschultern, wegen denen sich Miles einmal geprügelt hatte. Rupert hätte froh und stolz sein sollen, in Miles einen so glänzenden Verteidiger gegen die berüchtigten Sticheleien von Burns und Pembroke gefunden zu haben, doch stattdessen fühlte er sich gedemütigt. Zu allem Überfluss hatte Burns ihm bei dem Gefecht die Nase gebrochen, so dass Rupert stets von Schuldgefühlen übermannt wurde, wenn er Miles ins Gesicht sah) und sprach plötzlich sehr leise, als müsse er ihm ein Geheimnis einschärfen, das unter allen Umständen eines bleiben sollte.

"Ich will kein Geld, das war ein Scherz. Ich will mit dir nach Paris fahren, das ist keiner. Du warst noch nie dort, oder? Siehst du. Ich tu' dir einen Gefallen. Nie kommst du raus aus deinem Loch. Das soll sich jetzt ändern."

"Ich … das geht nicht. Die Bewerbungsschreiben … was soll denn daraus werden?", protestierte Rupert weinerlich, seine Mundwinkel zogen sich unwillkürlich nach unten. Miles unterschätzte häufig seine physische Kraft; wie ein Schraubstock umklammerte seine Hand Ruperts mageren Oberarm. Sich bewusst werdend, dass er ihm wehtat, lockerte er den Griff. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, die Rupert erst jetzt bemerkte. Eine Haarsträhne, die ihm in die Stirn gefallen war, klebte auf seiner makellosen Haut, und er wischte sie mürrisch zur Seite.

"Auf der Uni versauern kannst du dein ganzes restliches Leben noch. Das ist die Gelegenheit, Rupert! Sei kein Spielverderber!"

"Habe ich Geburtstag?" Jetzt wurde er doch neugierig, oder tat zumindest so. Anders würde er Miles nicht abwimmeln können. Außerdem schien ihn tatsächlich etwas zu bekümmern. Die gehetzte Art war nicht typisch für den sonst so in sich ruhenden Miles.

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