Meisterhafte Kurzgeschichtensammlung "Alpträume"

Romane mögen die Königsklasse der Literatur darstellen. Trotzdem gibt es zahlreiche Leser, darunter den Rezensenten, die Kurzgeschichten über alles schätzen. Insbesondere in den USA stellt die Kurzgeschichte eine anerkannte literarische Prosaform dar, die in der Phantastik Vielschreiber wie wie H. P. Lovecraft, Ray Bradbury oder Philip K. Dick hervorbrachte. Lange vor seinem kometenhaften Aufstieg zum weltweiten Bestsellerautoren, hielt sich Stephen King mit dem Verkauf von Kurzgeschichten in Männermagazinen über Wasser. Seine erste Kurzgeschichtensammlung "Nachtschicht" enthält viele dieser Texte; weitere sind in der gleichfalls wärmstens zu empfehlenden Kollektion "Blut" vertreten.

Die 1993 veröffentlichte Erzählsammlung "Alpträume" besteht größtenteils aus Kurzgeschichten damals jüngeren Datums und präsentiert entsprechend einen reiferen Stephen King. Trotzdem finden sich darunter einige Perlen der Horror-Erzählkunst, wie ein meisterhaftes Lovecraft-Pastiche. Leser, die Kurzgeschichten immer noch als eine unnütze Literaturform erachten, mögen sich von "Alpträume" eines Besseren belehren lassen. Nicht alle der enthaltenen Geschichten sind Meisterwerke - aber jene, die es sind, lohnen die Lektüre allemal!

24 Kurzgeschichten in Stephen Kings "Alpträume"

1. Dolans Cadillac

Nicht im Bild: Dolans CadillacDer Lehrer Robinson führt mit seiner Frau Elizabeth ein bescheidenes, aber glückliches Leben. Unglücklicherweise wird Elizabeth Zeuge eines Verbrechens des Mafia-Bosses Dolan. Mit ihrer Zeugenaussage hätte die Polizei endlich genug in der Hand, Dolan dingfest zu machen. Doch trotz Bewachung durch das FBI wird Elizabeth durch eine Autobombe getötet – und wieder kann man Dolan nichts nachweisen. Robinson ergibt sich nicht in sein Schicksal, sondern sinnt auf Rache. Aber der Mafiosi wird zu gut bewacht, um sich von einem einfachen Lehrer ausschalten zu lassen. Eines Tages hat Robinson aber eine Erleuchtung: Er wird Dolan buchstäblich eine Grube graben, in die er hineintappen soll …

"Dolans Cadillac" entstand 1985 und erschien ein Jahr später als limitierte, eigenständige Ausgabe. 2008 wurde die Geschichte schließlich mit Christian Slater in der Hauptrolle verfilmt. Warum, ist nicht schwer zu erahnen: Diese im Grunde genommen klassische Rachegeschichte ist gleichermaßen anrührend, wie spannend geschrieben. Dank der umfassenden Recherchen wirkt die Story glaubwürdig. Allerdings hat Stephen King in seine Berechnungen absichtlich Fehler eingebaut, um mögliche Nachahmer des Racheplans – Verrückte gibt es ja zuhauf – von der erfolgreichen Umsetzung abzuhalten. 

 

2. Das Ende des ganzen Schlamassels

In Form eines Briefes hält Howard für die Nachwelt fest, wie er und sein genialer Bruder Robert planten, die Welt in ein pazifistisches Paradies zu verwandeln. Doch die gute Absicht hatte wie so oft einen gewaltigen Haken …

Bekanntlich ist die Straße zur Hölle mit guten Absichten gepflastert. Das Bruder-Duo dieser Kurzgeschichte meint es ganz besonders gut und scheint mit seinen Bemühungen sogar Erfolg zu haben, bis – sonst wäre die Story ja langweilig – unbeabsichtigte Konsequenzen des Handelns drastisch aufzeigen, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Wie bei King oftmals üblich, ist die pseudo-wissenschaftliche Erklärung, wie der Weltfriede gesichert werden soll, an den Haaren herbeigezogen. Das spielt aber überhaupt keine Rolle, denn die Geschichte ist spannend und flüssig erzählt, wobei der Schluss nicht nur überraschend daherkommt, sondern auch eine Prise Sozialkritik in sich trägt. Nicht jede Idee, die einem selbst verblüffend genial erscheint, ist auch wirklich eine gute Idee.

 

3. Kinderschreck

Miss Sidley unterrichtet seit vielen Jahren an der Grundschule und kam bislang problemlos mit ihren Schülern zurande. Doch eines Tages lässt ein Junge namens Robert eine bedrohliche Bemerkung fallen, die die Lehrerin zunächst nicht ernstnimmt. Bis sie glaubt, an dem Schüler eine schreckliche körperliche Veränderung festgestellt zu haben. Beunruhigt schiebt sie den Gedanken beiseite, bis immer mehr Kinder an der Schule ihr Angst zu machen beginnen und sie den Entschluss fasst, der Bedrohung Herr zu werden …

1972 erstmals in einem Herrenmagazin veröffentlicht, stellt "Kinderschreck" die älteste Geschichte in "Alpträume" dar. Eigentlich wollte sie King bereits in seine Kurzgeschichtensammlung "Nachtschicht" aufnehmen, doch sein damaliger Verleger hatte sich dagegen entschieden. Nicht ganz verständlich, denn diese nur wenige Seiten umfassende Story ist Horror pur: Aus einer ganz alltäglichen Situation wie einer Unterrichtsstunde entwickelt sich blitzschnell blankes Entsetzen. Die Geschichte mündet in einer vorhersehbaren, aber effektiven Pointe und braucht sich vor den besten Kurzwerken Kings wahrlich nicht verstecken.

 

4. Der Nachtflieger

Über den Wolken... muss der Horror wohl grenzenlos sein... Sensationsjournalist Dees braucht dringend eine große Story. Und die scheint ihm gewissermaßen mit dem "Nachtflieger" benannten Serienkiller zugeflogen zu sein, der von Flughafen zu Flughafen fliegt und jeweils grauenhaften Massaker anrichtet. Dees heftet sich an die Fersen des Killers – und wünscht sich viel zu spät, er hätte die Finger davon gelassen …

Eine weitere Kurzgeschichte, die eine Verfilmung erfuhr. Die Auflösung des Rätsels, wer oder was sich hinter dem "Nachtflieger" verbirgt, ist keine Überraschung. Zudem erscheint die Geschichte unnötig in die Länge gezogen. Trotzdem versteht sie durchwegs zu unterhalten und der mit "Akte X" vertraute Leser dürfte sich fragen, ob sich diese Story nicht ideal für eine Episode der legendären Mysteryserie geeignet hätte!

 

5. Popsy

Sheridan hat gewaltige Wettschulden angehäuft. Nur ein Weg zur Begleichung bleibt ihm noch: Einem Pädophilen frische Kinder zubringen. Am Parkplatz eines Einkaufszentrums findet er sein nächstes Opfer. Doch irgendwie läuft die Sache ganz falsch, denn der zierliche Junge ist ungewöhnlich stark und droht Sheridan, dass ihn sein Popsy riechen kann und befreien werde …

Diese ein Jahr vor "Nachtflieger" entstandene Horrorgeschichte wirkt wie die Vorstudio zu besagter Story. Auch sie vermag zwar zu unterhalten, nicht aber zu überraschen. Allzu schnell wird klar, wer "Popsy" ist.

 

6. Es wächst einem über den Kopf

Das Haus der Newalls in Castle Rock scheint verflucht zu sein: Ihr erstes Kind stirbt unmittelbar nach der Geburt, später folgt Cora Newall und lässt Joe alleine zurück. Vor Trauer halb wahnsinnig geworden, baut er das Haus ununterbrochen aus, bis er sich das Leben nimmt. Damit ist der Hunger des Hauses nach Opfern aber noch nicht gestillt …

Eine der weniger überzeugenden Geschichten aus "Alpträume", die indirekt Bezug auf das berüchtigte Winchester-Haus nimmt. Schnell gelesen, ebenso rasch wieder vergessen.

 

7. Klapperzähne

Vertreter Bill Hogan wollte eigentlich nur rasch tanken und bezahlen. Doch im Laden des Tankstellenbesitzers schlägt das Schicksal gleich zweimal zu: Er entdeckt aufziehbare Klapperzähne die er kauft, obwohl sie nicht mehr funktionieren. Im selben Laden läuft ihm ein junger Mann über den Weg, der ihn fragt, ob er ihn ein Stück mitnehmen könne. Trotz schlechter Erfahrungen in der Vergangenheit lässt sich der gutmütige Hogan breitschlagen. Wenige Meilen später bereut er seinen Entschluss, als ihn der Anhalter mit einem Messer bedroht. Hogan denkt aber gar nicht daran, sich widerstandslos ausrauben zu lassen und beschleunigt den Wagen, bis er die Kontrolle darüber verliert und im Straßengraben landet, wo der Anhalter wohlbehalten und stinksauer aus seiner kurzen Ohnmacht erwacht …

Wenn das keine typische King-Geschichte ist, wann dann? Ein unscheinbarer Alltagsgegenstand wie aufziehbare Klapperzähne entwickeln plötzlich ein unheimliches Eigenleben. Dabei hätte die Story rund um einen vom Glück nicht gerade begünstigten Handelsvertreter auch ohne das übernatürliche Element tadellos funktioniert. Diese 1992 geschriebene Kurzgeschichte wurde für den Horror-Episodenfilm "Quicksilver Highway" verfilmt, neben Clive Barkers Story "Das Leibregime" aus den "Büchern des Blutes".

 

8. Zueignung

Das ehemalige Zimmermädchen Martha feiert mit ihrer Freundin Darcy den ersten veröffentlichten Roman ihres Sohnes Peter. Darcy zeigt sich erfreut, aber auch verwundert, wie es Martha vom einfachen Zimmermädchen zur führenden Angestellten brachte, obwohl sie mit einem gewalttätigen Tunichtgut verheiratet war. Über einem Glas Champagner vertraut ihr Martha ein Geheimnis an, das Darcy lieber nicht erfahren hätte …

Diese 1988 verfasste Kurzgeschichte zählt zu den schwächeren in "Alpträume". Gut gemeinte Sozialkritik, die sich aber in allerlei Klischees (unterdrückte junge Schwarze, edle Armut, Schlägerfreund) ergeht und auch durch das übernatürliche Element der Hexerei nichts hinzugewinnt und unspektakulär dahindümpelt. Kein großer Wurf.

 

9. Der rasende Finger

Howard guckt gerade eine Fernsehshow, als er aus dem Badezimmer ungewöhnliche Geräusche vernimmt. Ängstlich geht er nachsehen und traut seinen Augen nicht, als er einen Finger sieht, der aus dem Ausguss des Waschbeckens herauslugt. Anfangs hält er ihn noch für eine Halluzination, zumal seine Frau nichts Ungewöhnliches im Bad bemerkt. Aber sobald er wieder alleine in der Wohnung ist, belästigt ihn der immer länger werdende Finger erneut. Mit drastischen Mitteln rückt Howard dem Problem zu Leibe …

Falls die Kurzangabe dies nicht eindeutig klar gemacht haben sollte: "Der rasende Finger" ist eine alberne, nun ja, Fingerübung von King. Natürlich kann man das Szenario unter keinen Umständen ernstnehmen, selbst wenn man eine eventuelle Schizophrenie des Protagonisten berücksichtigte. Trotzdem macht diese Geschichte durchaus Spaß und weiß mit dem für King typischen schwarzen Humor zu überzeugen.

 

10. Turnschuhe

John Tell arbeitet in einem Plattenstudio und schlägt sich mehr schlecht, als recht über die Runden. Bei einem Toilettengang bemerkt er erstmals die abgetragenen weißen Turnschuhe unter dem Spalt einer der Kabinen. Monate später sieht er die Schuhe an unveränderter Stelle wieder, diesmal von toten Fliegen umgeben. Ist da drin etwa jemand gestorben, ohne dass dies aufgefallen wäre?

Diese Story scheint der Frage nachzugehen, weshalb es nicht auch auf Toiletten spuken sollte. Gut gemeint, aber arg in die Länge gezogen und bar jeglicher Spannung erzählt. Nach Meinung des Rezensenten gehört die Geschichte selbst auf den Lokus.

 

11. Verdammt gute Band haben die hier

Clark und seine Frau Mary nehmen eine falsche Abzweigung und landen in einer seltsamen Kleinstadt namens Rock and Roll Heaven. Im örtlichen Restaurant arbeitet eine Kellnerin, die Janis Joplin verblüffend ähnlich sieht, und spätestens als ihnen Buddy Holly und andere längst tote Musiker über den Weg laufen, erkennen sie, weshalb die Stadt diesen Namen trägt …

Mit dieser Geschichte erfüllte sich Rock-Fan Stephen King wohl einen alten Traum: Zahlreiche viel zu früh verstorbene Musiker an einem Ort versammelt! Horror ergibt sich daraus jedoch keiner, ganz im Gegenteil: Es gibt schlimmere Vorstellungen als jene, einem überlangen Konzert mit Elvis Presley, Jim Morrison und vielen anderen Musiklegenden lauschen zu müssen.

 

12. Hausentbindung

Auf der winzigen, fiktiven Insel Jenny Island muss die hochschwangere Maddie Pace zusehen, wie sie mit einer globalen Zombie-Invasion fertig wird. Ausgerechnet als ihr ums Leben gekommener, gewalttätiger Ehemann ins Diesseits zurückkehrt, setzen die Wehen ein …

Diese Kurzgeschichte war Stephen Kings Beitrag zu der Zombie-Anthologie "The Book of the Dead". Entsprechend vorhersehbar und unspektakulär liest sie sich. Ein nicht näher definiertes Objekt aus dem Weltall verwandelt Menschen in Zombies und eine Schwangere muss sich auf einer abgelegenen Insel vor Maine ihrer sowie der Haut ihres Ungeborenen erwehren. Wie allzu oft in Kings Werken werden Ehemänner als rohe, gefühllose Schlägertypen geschildert. Jener in "Hausentbindung" ist sogar über den Tod hinaus ein Ekel …

 

13. Regenzeit

Das junge Ehepaar John und Elise mietet ein altes Haus in der Nähe von Willow an. Beim Einkauf in der Stadt raten ihnen die Einheimischen, das Haus diese eine Nacht zu meiden, da es alle sieben Jahre zu exakt demselben Zeitpunkt Kröten regne. Natürlich halten die beiden das Ganze für einen wenig geistreichen Witz und übernachten in dem Haus, ohne lange darüber nachzudenken. Vielleicht hätten sie aber doch besser auf die Einheimischen hören sollen …

"Regenzeit" ist eine rundum gelungene Horrorgeschichte, obwohl schon früh klar wird, wie der Hase läuft. Auf wenigen Seiten schafft es King, zwei sympathische Charaktere zu erschaffen, die er in ein apokalyptisches Szenario schmeißt. Knackig, richtig fies und spannend – mehr kann man von einer guten Geschichte kaum verlangen.

 

14. Mein hübsches Pony

Opa Banning tröstet einen seiner Enkel darüber hinweg, dass seine Freunde beim Spielen geschummelt haben. Er schenkt ihm seine Taschenuhr und erklärt ihm anhand seiner Lebensgeschichte, wie die Zeit in unterschiedlicher Geschwindigkeit abzulaufen scheint.

Diese Geschichte erschien 1989 in limitierter Ausgabe und stellte einen Auszug eines nie vollendeten Romans dar, den King unter seinem Pseudonym Richard Bachman schreiben wollte. Möglicherweise wäre der Roman ein Knaller geworden – die Story "Mein hübsches Pony" ist hingegen langweilig.

15. Entschuldigung, richtig verbunden

Katie erhält einen seltsamen Telefonanruf, der keinen Sinn zu ergeben scheint. Erst Jahre später versteht sie, wer der Anrufer ist – und weshalb es absolut unmöglich scheint, ausgerechnet diesen Anruf erhalten zu haben …

Bei "Entschuldigung, richtig verbunden" handelt es sich um ein Drehbuch für Kings Beitrag zur TV-Serie "Unglaubliche Geschichten". Die Story wurde aber später für "Geschichten aus der Schattenwelt" aufgegriffen und verfilmt. Doch weder als Drehbuch, noch als TV-Episode birgt dieser wiederum wie eine "Akte X"-Folge wirkende Plot Spannung oder einen hohen Unterhaltungswert in sich, womit diese Geschichte zu den schwächsten dieser Sammlung zählt

 

16. Die Zehn-Uhr-Leute

Da ihm der öffentliche Kampf gegen das Nikotin das Rauchen in seinem Büro verbietet, muss Brandon im Freien seine Pausenzigarette genießen. Wobei von Genuss keine Rede sein kann, als er einer abstoßend grässlichen Gestalt im Anzug gewahr wird, die sich ganz normal unter den anderen Menschen bewegt. Ehe er aufschreien kann, befiehlt ihm der neben ihm stehende Duke, die Klappe zu halten, so er keine Lust habe, am nächsten Tag als Leiche im Wasser treibend gefunden zu werden. Der geschockte Brandon gehorcht und wird von Duke später aufgeklärt: Was er gesehen hat, ist ein Wesen aus einer anderen Welt, das für die meisten anderen wie ein ganz gewöhnlicher Mensch aussieht, von Leuten wie ihm und Duke aber in seiner richtigen Gestalt gesehen werden kann. Bei diesem Wesen handle es sich um die Vorhut einer bösartigen Spezies, die nach der Weltherrschaft greift. Es gäbe aber eine Widerstandsgruppe, die jedes neue Mitglied brauchen könne. Ehe Brandon weiß, wie ihm geschieht, befindet er sich plötzlich im Untergrundkampf gegen eine extraterrestrische Rasse …

Wer John Carpenters "Sie lieben!" gesehen hat, wird sich beim Lesen von "Die Zehn-Uhr-Leute"  unweigerlich an diesen Science-Fiction-Film erinnert fühlen. Tatsächlich reicht die Idee, dass nur eine Gruppe "Auserwählter" imstande ist Invasoren aus einer anderen Welt zu erkennen natürlich viel weiter zurück. Selten wurde sie aber dermaßen unterhaltsam und fesselnd zugleich in Szene gesetzt, wie in dieser Kurzgeschichte. Dem unmittelbaren Einstieg in das Geschehen folgen die Erklärungen, was es mit dem Monster im teuren Anzug auf sich hat, und weshalb die Welt vor der feindlichen Übernahme durch Außerirdische steht. Einige Seitenhiebe auf die seit den 1980er Jahren schwelende Nikotin-Hysterie wirken einerseits ironisch, andererseits machen sie nachdenklich, wie rasch einst völlig Selbstverständliches – in diesem Fall das Rauchen von Zigaretten – gesellschaftlich in Ungnade fallen kann. Wie Stephen King aus der Banalität des Rauchverbots in öffentlichen Gebäuden eine unerträglich spannende Horror-Science-Fiction-Geschichte aufzieht, ist schlichtweg beeindruckend.

 

17. Crouch End

Ein amerikanisches Ehepaar möchte einen Freund im Londoner Stadtteil Crouch End besuchen, verirrt sich dabei jedoch und läuft hilfesuchend durch die menschenleeren Straßen. Zu ihrer Erleichterung treffen sie dann doch noch auf einen Jungen, der jedoch seltsam deformiert ist und wirres Zeug brabbelt. Spätestens als sie einem nicht von dieser Welt stammenden Monster über den Weg laufen, wird ihnen klar, dass sie sich nicht mehr im weltlichen London befinden …

Basierend auf einem eigenen Missgeschick – er verirrte sich in Crouch End, als er Horrorkollegen Peter Straub besuchen wollte – erzählt Stephen King eine unverkennbar an H. P. Lovecraft angelehnte Geschichte mit Tentakelmonstern, der "Ziege mit den tausend Jungen" und anderen Unwesen aus dem literarischen Fundus des Einsiedlers von Providence. Wie schon die gleichfalls als Hommage an Lovecraft verfasste Geschichte "Briefe aus Jerusalem" (erschienen in "Nachtschicht"), schafft es King, einen atmosphärisch ungemein dichten Text zu erschaffen, der einem seiner großen Vorbilder zur Ehre gereicht hätte. Zweifellos kann "Crouch End" zu den besten Geschichten des Bandes gezählt werden.

 

18. Das fünfte Viertel

Vier Bankräuber erbeuten eine halbe Million Dollar. Da die Beute noch "heiß" ist, vergraben sie das Geld, fertigen einen Lageplan an und vierteln diesen, wobei jeder der Verbrecher ein Viertel erhält. Einer der vier Männer ermordet einen Komplizen, um ihm sein Viertel der Karte abzunehmen. Ein Fehler, denn dieser war mit einem ruchlosen Killer befreundet, der alles daran setzt, den ermordeten Freund zu rächen …

Dieser Kurzkrimi wurde erstmals1972 unter dem Pseudonym John Swithen veröffentlicht. So ungewöhnlich ein Krimi in Zusammenhang mit Stephen King auch scheinen mag: Im Verlaufe der Handlung werden Leute nicht einfach erschossen und fallen tot um, sondern es werden Gesichter zu Brei zerschlagen und weitere drastische Gewaltexzesse verübt. "Das fünfte Viertel" bietet als gewaltlastiger Krimi willkommene Abwechslung, hinterlässt jedoch keinen bleibenden Eindruck.

 

19. Das Haus in der Maple Street

Sparmaßnahmen zwingen die NASA zu ungewöhnlichen neuen Raketentypen...Nach dem Tod ihres Mannes heiratet die vierfache Mutter Catherine Bradbury den tyrannischen Lew Evans, der von seinen Stiefkindern gleichermaßen gefürchtet, wie gehasst wird. Durch puren Zufall entdecken die Kinder, dass sich ihr Haus allmählich in ein Raumschiff verwandelt, dessen Start schon bald bevorstehen wird. Anstatt die Entdeckung ihrer Mutter und ihrem Stiefvater mitzuteilen, schweigen sie darüber und fassen einen Plan …

Inspiriert vom Gemälde eines viktorianischen Hauses, das wie eine Rakete abzuheben beginnt, schrieb King diese Geschichte 1993 nieder. Obwohl die Story nicht weiter bemerkenswert ist und einem typischen Rache-Plot folgt, sticht sie soweit hervor, dass sie auch für Kinder geeignet ist.

 

20. Der Fall des Doktors

Jahrzehnte nach Sherlock Holmes‘ Tod lüftet Dr. Watson ein Geheimnis: Er erzählt die Geschichte des einzigen Falles, den nicht der Meisterdetektiv sondern Watson selbst löste.

Diese literarische Verbeugung vor Arthur Conan Doyles weltberühmter Romanfigur kommt tatsächlich wie eine klassische Sherlock-Holmes-Geschichte daher und wurde ursprünglich für die 1987 veröffentlichte Anthologie "The New Adventures of Sherlock Holmes" verfasst.

 

21. Umneys letzter Fall

Privatdetektiv Clyde Umney ist beunruhigt: Irgendwas stimmt nicht in seiner Welt der 1930er Jahre. Die Menschen verhalten sich plötzlich so merkwürdig, und dann wartet in seinem Büro ein Fremder der behauptet, er käme aus den 1990er Jahren und hätte die Macht, Umneys Leben bis ins kleinste Detail hin nach Belieben zu gestalten …

Der Hommage an Arthur Conan Doyle folgt eine an Krimiautor Raymond Chandler. An dieser Stelle soll nicht zu viel verraten werden, denn diese Kurzgeschichte wartet mit einigen Überraschungen auf. Zwar wurde der Plottwist inzwischen mehrfach filmisch aufgegriffen, doch Kings rasanter Stil und lakonischer Humor machen aus dieser anfangs typischen Privatdetektiv-Geschichte ein Highlight von "Alpträume". Übrigens wurde die Story für den Episodenfilm "Nightmares & Dreamscapes" mit William H. Macy in der Hauptrolle verfilmt.

 

22. Kopf runter

Ein Essay des Baseball-Fans King zu dieser Sportart. Für Nicht-Sportfans wie den Rezensenten wohl gänzlich uninteressant.

 

23. August in Brooklyn

Nahtlos an "Kopf runter" anschließend: Ein Gedicht an das Baseballteam der "Brooklyn Dodgers".

 

24. Der Bettler und der Diamant

Mit der Nacherzählung einer Hindu-Parabel schließt die Kurzgeschichtensammlung "Alpträume". Von wegen, das Beste komme zum Schluss …

 

Fazit: An die Erzählsammlungen "Nachtschicht" und "Blut" kommt "Alpträume" nicht heran. Trotz der unterschiedlichen Qualität der Geschichten lohnt sich die Lektüre alleine schon wegen der fulminanten Storys "Regenzeit", "Kinderschreck", "Die Zehn-Uhr-Leute" und "Dolans Cadillac". King-Fans werden nicht enttäuscht und Freunde gediegenen Horror liegen dank der besseren Geschichten des Buches goldrichtig.

Originaltitel: Nightmares and Dreamscapes

Autor: Stephen King

Veröffentlichungsjahr: 1993 (USA, Deutschland)

Seitenanzahl: 697 Seiten (Hardcover-Ausgabe)

Verlag: Erstmals erschienen bei "Hoffmann und Campe"

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