Am 20. Juli 2012 richtete in Denver/Colorado ein Amokläufer in einem Kino ein Blutbad an. Bei der Premiere des neuen "Batman"-Filmes schoss er wahllos in die Menge und tötete zwölf Menschen, verwundete dutzende weitere. Ein tragisches Ereignis, das in Europa vorhersehbare Reaktionen auslöste. Wie bei einem Reflex folgen unwillkürlich wieder und immer wieder dieselben Phrasen, Forderungen und Allgemeinplätze. "Die Amis" seien rechtsgerichtete Waffennarren und man müsse deshalb allen Zivilisten den Erwerb und Besitz von Schusswaffen verbieten. Wer eine gegenteilige Meinung vertritt, outet sich als ebensolcher Waffennarr, dessen Wohnung und Hirnwindungen man unbedingt durchsuchen sollte. Ganz offensichtlich kann mit solchen Spinnern was nicht stimmen! Gemäß dem Motto "Ist der Ruf erst ruiniert" möchte der Artikelautor trotzdem eine der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit diametrale Position vertreten.

 

Asoziale Waffennarren?

Zunächst gilt es die nicht unwesentliche Feststellung zu treffen, dass der Besitz und das Tragen von Waffen in der amerikanischen Verfassung verankert ist. Über die Definition der einzelnen Wörter sowie deren Auslegung wurde und wird je nach persönlicher Präferenz debattiert. Unabhängig von derlei mit meist lächerlichen Spitzfindigkeiten geführten Diskussionen, muss auf einen wesentlichen Unterschied in der Mentalität zwischen Westeuropäern und US-Amerikanern näher eingegangen werden. Für die meisten Europäer ist es völlig unverständlich und Ausdruck höchster Gewaltbereitschaft, dass viele US-Bürger Schusswaffen besitzen. Dies hängt vorwiegend mit dem Vertrauen bzw. Misstrauen in den Staat zusammen. Europäer glauben unerschütterlich an die moralische Integrität des Staates und zweifeln trotz aller Kritik an der EU oder missliebigen Politikern und Institutionen mit keiner Faser ihres Körpers an seiner außer jeglicher Frage stehenden Notwendigkeit. Der Staat gilt hierzulande als Übervater, der – gewisslich – hin und wieder über die Stränge schlägt, manche als ungerecht empfundene Strafe ausspricht und bisweilen nicht ganz nachvollziehbare Willkür an den Tag legt.

Alles in allem wird er aber als eine uns alle behütende Glucke wahrgenommen, ohne deren Schutz wir erfrören oder erbarmungslosen Raubtieren zum Opfer fielen. Trotz massiver sozialistischer Indoktrination, die bereits Früchte trug, misstrauen viele US-Bürger der angeblich schier unfehlbaren Kompetenz "ihres" Staates. Gerade die Anschläge vom Elften September 2001 hatten zweierlei offengelegt: Erstens die offensichtliche Unfähigkeit der milliardenteuren Geheimdienste, ihrer wesentlichen Aufgabe nachzukommen, und zweitens die Konsequenzen staatlichen Handelns. Denn die Terrorakte waren nichts weiter als Reaktionen auf die US-Außenpolitik. Aber auch im weitaus kleineren Rahmen setzen viele US-Amerikaner wenig Vertrauen in die Staatsbehörden, wenn es um den Schutz ihrer Unversehrtheit oder ihres Besitzes geht. Eine Waffe kann, so ungeheuerlich dies für uns Europäer klingen mag, nicht nur zum Töten unschuldiger Menschen verwendet werden, sondern als Akt der Selbstverteidigung und Abschreckung. Als es im Zuge der Unruhen 1992 in Los Angeles wie üblich zu Plünderungen kam, wurde eine Bevölkerungsgruppe überproportional stark in Leidenschaft gezogen: Ostasiatische Immigranten bzw. Amerikaner dieser Abstammung. Der Grund hierfür war ganz einfach: Die meisten von ihnen waren unbewaffnet, während wehrhafte weiße oder schwarze Geschäftsbesitzer verschont wurden.

 

Wehrlose Opfer bevorzugt

Die Logik potenzieller Verbrecher ist nachvollziehbar: Wehrlose Opfer werden bevorzugt! Kein Schulhofrowdy legt sich mit einem ebenbürtigen Mitschüler an. Ebenso wenig stänkern Mitglieder einer Straßengang Passanten an, die ihnen gefährlich werden könnten. Und eben deshalb finden Amokläufe dort statt, wo sich Täter ungefährdet wähnen. Dies traf etwa auf den Amoklauf 2009 in Fort Hood genauso zu wie auf die von Anders Breivik 2011 verübten Massaker auf einer norwegischen Insel. Hier wie dort wussten die Täter, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinerlei Gegenwehr zu befürchten hatten.

 

Löst ein Waffenverbot die Probleme?

Doch wie steht es nun um die beständig zu hörende Forderung, den Besitz und den Verkauf von Schusswaffen generell – ausgenommen natürlich für Vertreter der Staatsmacht – unter Strafe zu stellen? Gegen diese Maßnahme findet sich doch bestimmt kein einziges plausibles Argument, oder?

Es finden sich deren mehrere. Lassen Sie mich zunächst kurz in die Historie abschweifen. Entwaffnungen der Zivilbevölkerung fanden bevorzugt in Diktaturen statt, was aus Sicht der Machthaber schlüssig ist: Eine wehrlose Bevölkerung lässt sich spielend leicht beherrschen und einschüchtern. Folgerichtig gingen die Nazis nach der Machtergreifung daran, systematisch die Juden zu entwaffnen, was späteren Widerstand gegen die Verhaftungen und Deportierungen praktisch unmöglich machte. Eine bereits von den Kommunisten in der Sowjetunion erprobte Maßnahme, die ebenso dazu diente, möglichen Widerstand im Keim zu ersticken – mit Erfolg. Dass Nazi-Deutschland, Stalins Sowjetunion oder Kambodscha unter Pol Pot dank der Waffenverbote lebenswertere Staaten waren, ist kaum anzunehmen. Der historische Kontext ergibt sich aus dem Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern. Um zu den USA zurückzukehren: Einer der Hintergedanken der relativ moderaten Waffengesetze lag darin, die Bevölkerung nicht schutzlos einem Tyrannen auszuliefern bzw. potenzielle Aggressoren außerhalb der Grenzen abzuwehren.

Der größte Haken am Argument der totalen Entwaffnung mit dem Ziel der Gewaltvermeidung ist freilich ein anderer: Verbrecher neigen leider dazu, die Gesetze zu missachten. Sind Waffen legal nicht erhältlich, werden sie eben auf illegalem Wege besorgt oder gestohlen. Der Leidtragende wäre auch hierbei der ehrliche Bürger, nicht der ruchlose Verbrecher. Man müsste somit buchstäblich jede Schusswaffe konfiszieren und unschädlich machen – selbst im Falle kleiner Staaten wie Österreich eine Unmöglichkeit. Ob ein Amokläufer einen Waffenschein oder eine registrierte Waffe besitzt, oder sich am Schwarzmarkt mit Waffen, Munition und Sprengstoff wie im gegenständlichen Fall eingedeckt hat, spielt für die Opfer nicht die geringste Rolle. Derlei Maßnahmen sind ebenso wirkungslos, wie ein Zutrittsverbot für Bankräuber in Geldinstituten. Wer es darauf anlegt, schert sich schlichtweg nicht darum.

 

Ruanda: Rustikaler Völkermord

Auch der Zusammenhang zwischen der Mordrate und Schusswaffen ist umstritten. Befürworter legalen Waffenbesitzes vertreten die Ansicht, dass Waffen die Verbrechensrate senken, da potenzielle Verbrecher abgeschreckt werden. So plausible dies klingen mag: Beweisen lässt sich dies natürlich nicht. Andererseits stellen strenge Waffengesetze keine Garantie für eine weniger gewalttätige Gesellschaft dar. In Großbritannien mit seinem totalen Verbot von Kurzwaffen werden die meisten Morde mit Stichwerkzeugen begangen. Allerdings werden auch in vielen anderen Staaten Morde meist nicht mit Schusswaffen begangen. Selbst in den "waffenverrückten" USA werden diese nur in etwa der Hälfte der Morde eingesetzt, wobei dies dem Umstand der vornehmlich mit Schusswaffen ausgefochtenen Drogenkriegen zwischen den Gangs geschuldet ist. Südlich der Grenze in Mexiko fallen alljährlich tausende (!) Menschen diesen Drogenkriegen – die im Übrigen auf den internationalen "War on Drugs" zurückzuführen sind - zum Opfer. Doch selbst in Ermangelung von Schusswaffen zeigen sich mordlüsterne Psychopathen nicht verlegen, verhasste Mitmenschen ums Eck zu bringen. Der ruandische Völkermord 1994 etwa wurde größtenteils mit Macheten, Speeren und Knüppeln durchgeführt.

 

Utopia reloaded

Der Traum von einer gewaltfreien Welt ist nüchtern betrachtet nicht mehr als unrealistische Schwärmerei. Schließlich sind es letztendlich Menschen, die den Abzug drücken, den Knüppel schwingen oder Militärdrohnen steuern. Auf der Grundlage von Wunschdenken und emotionaler Erregung unbescholtene Mitbürger zu bestrafen, erscheint jedenfalls nicht dazu geeignet, Utopia auf Erden zu errichten. Ganz davon zu schweigen, dass derartige Versuche stets mit ungeheuren Verbrechen endeten.

Anmerkung: Der Autor ist Pazifist, hat noch nie eine Schusswaffe in Händen gehalten und beabsichtigt auch nicht, dies jemals zu ändern. Von einem Waffenverbot wäre er somit in keiner Weise betroffen und kann folglich nicht als "Waffennarr" diffamiert werden.

Autor seit 13 Jahren
815 Seiten
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