In unserer Gesellschaft existiert ein Phänomen, das es in einem Staat mit Schulpflicht und modernem Schulsystem normalerweise nicht geben kann: eine viel zu große Anzahl an Menschen, die nicht lesen und schreiben können, Analphabeten eben. Wir "Normalos", für die das Lesen eines Textes kein angstbesetztes und beinahe kaum zu bewältigendes Hindernis darstellt, sondern für die Lesen sogar eine Form von Genuss bedeutet, haben Schwierigkeiten bei der Vorstellung, dass jemand nach acht oder neun Jahren Schulbesuch ein Zeugnis erhält und dennoch grundlegendste Kulturtechniken nicht beherrscht. Es ist paradox: Auf der einen Seite gibt es Kinder, die bereits vor Eintritt in die Grundschule fließend lesen können. Andererseits verlassen jedes Jahr Schulabgänger die Schulen, ohne in der Lage zu sein, einfachste Texte zu lesen, vom Schreiben ganz zu schweigen. Wo liegen aber die Ursachen für das Phänomen "Analphabetismus"?

Streng genommen muss man bei der überwiegenden Zahl von Analphabeten von so genannten "funktionalen Analphabeten" sprechen, also Menschen, die zwar in der Schule Lesen und Schreiben gelernt haben, deren Kenntnisse aber so unzureichend sind, dass sie damit im Alltag nicht zurechtkommen. Die Ursachen liegen meist in ungünstigen Bedingungen im Elternhaus: wenig Unterstützung, kein Interesse am schulischen Erfolg oder Misserfolg der Kinder, ein "bildungsfernes" Elternhaus mit wenig Anreizen zum Lesen. Viele der funktionalen Analphabeten besuchten eine Förderschule aufgrund bestehender Lerndefizite oder hatten schon immer Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben - die Ursachen sind vielfältig. Oft fällt es in den großen Klassen nicht sofort auf, wenn ein Kind mit dem Lesen- und Schreibenlernen nicht die notwendigen Fortschritte macht. Ist jedoch bereits die zweite Grundschulklasse beendet, lässt sich kaum noch aufholen, was bis dahin versäumt wurde. Für manche Kinder wird Lesen und Schreiben dann zum angstbesetzten Thema, das man besser meidet, wo man nur kann. Ein Teufelskreis setzt sich in Gang.

Alphabetisierung: Es gibt Hilfe!

Seit vielen Jahren bereits werden Alphabetisierungskurse für Erwachsene angeboten, meist von Volkshochschulen. Die Schwierigkeit besteht darin, Analphabeten überhaupt in die Kurse zu holen. Denn die Hemmschwelle, bedingt durch die Scham, sich "zu outen", ist hoch. Die meisten Analphabeten können auch Kursankündigungen im VHS-Programm oder in Tageszeitungen nicht lesen, erfahren also oftmals gar nicht, dass es solche Kurse überhaupt gibt. Hier sind Freunde, Verwandte und Vertraute gefragt, die eine "Vermittlerrolle" übernehmen können. Am einfachsten ist ein Anruf bei der kostenfreien Hotline des Alpha-Telefons, Link siehe unten. Das Video auf der Seite ist gut geeignet, Anrufern die Scheu zu nehmen.

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