Anja Röhl liest: "Die Frau meines Vaters"
Viele Zuhörer kommen zur Lesung ins Atelier Kowalke in Eckernförde(Bild: Gabriele Schreib M.A.)
Das Kind verliert. Nach einer Weile weint es...
"Das Kind verliert. Nach einer Weile weint es, will nicht mehr mitspielen. 'Immer dasselbe!' sagt der Vater. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. 'Mit dir kann man nicht spielen, immer gleich beleidigt!' Er rollt mit den Augen und packt das Spiel ein. 'Wozu, glaubst du, heißt wohl das Spiel Mensch-ärgere-dich-nicht?' Das Kind weiß nicht, warum das dumme Spiel so heißt. Es muss weiter weinen, schämt sich aber, guckt auf den Boden und will mit niemandem reden. Da mischt sich die Frau ein, sie spricht sanft mit dem Kind, sie holte die Töne aus dem Inneren ihres Bauches. Mit einer tiefen Stimme sagt sie: 'Na klar ärgert man sich dabei! Das Spiel heißt ja nur deshalb so. Auch Erwachsene ärgern sich dabei, das ist nicht schlimm. Weißt du was? Das ist überhaupt ein ganz doofes Spiel, weil es immer nur drauf ankommt, einen verlieren zu lassen.' Das Kind schaut die fremde Frau an, als sie sagt: 'Dazu hast du es doppelt schwer. Gegen zwei Erwachsene kann man gar nicht gewinnen. Die Erwachsenen sind ja meist im Vorteil gegenüber den Kindern.' Das Kind lächelt jetzt ein wenig. Es schaut der Frau genau ins Gesicht. Die Frau lächelt zurück. So was hat es noch nie erlebt, dass eine so spricht. Ulrike, denkt das Kind, was die für Sachen sagt!" Anja Röhl hat ihr Buch in drei Teile geteilt. So spricht zunächst DAS KIND, dann DAS MÄDCHEN und im dritten Teil DIE JUNGE FRAU. Das ist gut für den Spannungsbogen, aber das macht sie auch wegen der persönlichen und distanzierten Sicht auf die Dinge unangreifbar. Sich vor Angriffen zu schützen ist sicher sinnvoll, denn Ulrike ist Ulrike Meinhof. Die Dozentin und Autorin Anja Röhl macht mittlerweile viele Lesungen mit ihrem 2013 erschienenen Buch. So auch hier im Atelier Kowalke auf der Eckernförder Carlshöhe.
Die 50er Jahre werden wieder lebendig
"Die Mutter ist zu Hause oft nicht richtig fröhlich, eher angestrengt, traurig. Die Mutter freut sich, wenn Männer sich für sie interessieren. ... Der Vater verspricht dem Kind immer viel, gleich nächste Woche will er wiederkommen, doch er hält seine Versprechen nicht. ... Eine geschiedene Frau besucht man nicht, sagt die Mutter. Deshalb muss sie rausgehen, wenn sie jemanden treffen will. Zu Hause lebt nur das Kind. Das Leben mit einem Kind ist anstrengend, deshalb sucht die Mutter wieder nach einem Mann. Eine Frau braucht einen Mann, sagt sie, nur dann nimmt man sie ernst. Im Urlaub, wenn da Männer sind, freut sich die Mutter, doch hat sie immer Sorge, ob sie auch hübsch genug aussieht, sie zupft sich die Haare zurecht, schaut sich im Glas an, schminkt sich im Handspiegel. ... 'Deine Mutter hat einen neuen Freund, ich weiß es', sagt der Vater. 'Deine Mutter ist eine Schlampe, sie taut nie den Kühlschrank ab und sie geht mit jedem ins Bett.' Das Kind versucht wegzuhören, wenn der Vater schlecht über die Mutter redet." Das Kind wird verschickt, weil es sehr dünn ist, nach Wyk auf Föhr. Hier lernt es die Zuchtpädagogik der 50er Jahre nochmal richtig kennen: "Als es wieder zu Hause ist, will es nie wieder verschickt werden. Das war ein ganz schlimmes Heim, sagt das Kind."
Mädchen müssen Kleider anhaben
Der Vater holt das Kind ab: "Der Vater nimmt das Kind an die Hand. Das ist schön. 'Sieh mal, ich habe ein neues Auto', sagt er, 'das Teuerste ist immer das Beste, man muss das Teuerste nehmen.' Sie laufen zu dem neuen Auto, er hält ihr die Tür auf, denn Frauen muss man immer die Tür aufhalten, der Mann ist der Kavalier. 'Jetzt bist du meine kleine Frau.' ... Er singt laut und schmetternd, dabei batscht er dem Kind auf die Beine. Manchmal sagt das Kind: 'Nicht, Papa, lass' das!' Aber es ist auch blöd, wenn er dann schlechte Laune bekommt, deshalb sagt das Kind meistens nichts, hält still. Mädchen müssen Kleider anhaben, sagt der Vater, damit man das jederzeit tun könne. Es ist eine dumme Idee, Mädchen Hosen anziehen zu lassen. Mädchen muss man unter den Rock fassen können, dazu sind Röcke da. Er lacht." In vielen Schulen ist es in den beginnenden 60ern noch verboten, dass die Mädchen Hosen tragen. ... "Später im Auto sagt der Vater zu dem Kind: 'Wir werden heiraten.' Das Kind versteht nicht. 'Ich werde Ulrike heiraten.' Das Kind ... verbeißt sich das Weinen. Die Eltern werden nie wieder zusammenkommen. Nun sind sie für immer getrennt, denn er heiratet wieder, eine andere."
Die Familie wird größer
Ulrike bekommt Zwillinge. Das Kind freut sich unglaublich über die Geschwister und ist fortan oft bei ihnen. Mit Ulrike versteht sie sich immer besser. "Über dem Sofa hängt ein rot-weißes Ölgemälde. Rechts neben der Terrassentür steht ein Schreibtisch, an dem sitzt Ulrike und schreibt ihre Kolumnen. 'Ich habe mir meine Möbel selbst gebaut', sagt Ulrike, 'das ist billiger und sieht schöner aus.' Das will ich später auch machen, denkt das Kind." Die Kolumnen in der Zeitschrift Konkret haben in der Tat viele der älteren Zuhörer in Eckernförde selber gelesen. "Ulrike macht nie Vorwürfe. Das Kind kann sich frei bewegen. Nie muss es Mittagsschlaf machen, wenn es nicht will. Das Kind spielt mit den Zwillingen, als sei es selbst erst vier Jahre alt." ... "Das Mädchen liest jetzt auch, was Ulrike in der Zeitung schreibt. Sie versteht nicht alles, aber dass sie für die Menschen und deren Freiheit eintritt, für Gerechtigkeit und gegen Waffen, Gewalt und Krieg, das versteht sie. Sie findet gut, was Ulrike schreibt, weil sie niemandem die Schuld gibt, sondern die Dinge erklärt." ... "Das Mädchen schaut zusammen mit Ulrike und dem Vater im Fernsehen politische Sendungen. In einer wurde ein Kind durch Napalm verbrannt." Vietnam rückt in den Blickpunkt der jungen Bundesrepublik und auch die Bewaffnung mit Atombomben. "Wenn der Vater mit dem Mädchen allein ist, redet er schlecht über Ulrike. Der Vater wirft Ulrike vor, den Haushalt verschlampen zu lassen. Dabei stimmt das gar nicht. Dasselbe hat er früher über ihre Mutter gesagt, das stimmte auch schon nicht. ... Ulrike kann gut überzeugen, man fühlt sich nicht dumm, wenn man eine andere Meinung hat. Sie ist das Gegenteil vom Vater. Sie redet nie schlecht über andere, nicht mal über den Vater. Sie regt das Mädchen zum Nachdenken an. Ihr Kopf wird klarer, wann immer sie mit Ulrike redet."
Der 2. Juni 1967 radikalisiert eine ganze Generation
"Eines Tages sitzt die Mutter da und weint, ein Student sei erschossen worden, bei einer Demonstration, im Radio bringen sie dauernd etwas darüber. Benno Ohnesorg heißt er. Einer der Polizisten hat ihn erschossen, obwohl er nichts getan hatte. Überall demonstrieren nun die Studenten, auch in Hamburg auf der Moorweide. Es war beim Schahbesuch, dazu hat auch Ulrike einen Artikel geschrieben. Den hatte das Mädchen in der Zeitung ihres Vaters gelesen. ... Dann gibt es wieder Streit zwischen dem Vater und Ulrike. Er ist betrunken, er schreit und gebraucht alle seine Schimpfworte, wie bei der Mutter und seinen anderen Frauen. ... Als der Vater wieder einmal tobt und schreit, sagt Ulrike mit leiser Stimme: 'Es geht so nicht weiter, du musst etwas tun, du bist krank. Mach eine Psychoanalyse, ansonsten kann ich nicht mit dir zusammenbleiben.' Das war gut, denkt das Mädchen. Endlich. ... Nach einem Papitag steigt das Mädchen aus dem Auto ihres Vaters. Da hält er sie nochmal zurück: 'Übrigens, Anja! Ulrike und ich werden uns trennen. ... Das Mädchen erfährt eines Tages, dass Ulrike mit den Kindern jetzt in Berlin wohnt. Wenn sie möge, könne sie sie ja mal besuchen, die Kinder würden sich freuen, lässt Ulrike ihr durch ihren Vater ausrichten. Das Mädchen will so schnell wie möglich dorthin. ... Abends, als die Zwillinge im Bett sind, sagt Ulrike: 'Weißt du, wie gut ich mich hier fühle? Früher habe ich geglaubt, dass man das nie alleine schaffen kann, ich dachte man braucht einen Mann und dazu noch ein Hausmädchen. Aber jetzt habe ich weder das eine noch das andere und komme prima klar! ... Das Mädchen kommt nun öfter nach Berlin. ... Als sie Ulrike und die Zwillinge das nächste Mal besucht, ist etwas Schlimmes passiert, es stand in allen Zeitungen. Ulrike war mit Leuten aus Berlin gekommen, sie waren vor die Villa in Blankenese gezogen und haben dort Möbel aus dem Fenster geworfen. ... Sie sagt, sie sei nicht einverstanden gewesen und dass die Presse genau zu dem Zeitpunkt kam, als sie durch den Garten ging. Da hatten sie ihre Story von einem Rachefeldzug der enttäuschten Ehefrau."
Ulrike wird wegen Modes gesucht
"An einem Sonntagnachmittag (im Internat, Anm. d. Verf.) ... stürzt Jessi auf sie zu und fragt aufgeregt: 'Weißt du es schon?' 'Was?', fragt das Mädchen. 'Ulrike wird wegen Mordes gesucht.' Das Mädchen stürzt am Rand des Tisches herab, versucht sich noch festzuhalten, hat aber keine Kraft mehr. Sie schreit: 'Nein!', weil sie nicht will, dass das wirklich passiert ist, was sie da gerade gehört hat. ... Die Heimleiterin fragt mit drohender Stimme: 'Was ist das, was soll das?' Das Mädchen fühlt sich plötzlich ruhig und stark und sagt: 'Diese Frau ist die Mutter meiner Schwestern.' Die Leiterin ruft verächtlich: 'Um so einen Menschen lohnt es nicht zu weinen.' ... Im Studentenheim hat die junge Frau, wenn sie von der Schule nach Hause kommt, Angst. Angst, dass man sie abholen kommt, doch die Mutter hat ihre Drohung mit dem Fürsorgeheim bisher nicht wahrgemacht. Das rechnet die junge Frau ihr hoch an. ... Die Schule empfindet sie wie ein lästiges Pflichtprogramm. Immer öfter gehen sie zu linken Studentengruppen, die gegen den Vietnamkrieg demonstrieren und sich mit dem Marxismus beschäftigen und damit, wie man die Arbeiterklasse, die vor allem die Boulevardpresse leist, erreichen kann. Über die Rote Armee Fraktion reden sie nie. Die junge Frau schiebt alles, was damit zusammenhängt, weit von sich weg. Geblieben ist bloß die Hoffnung, dass Ulrike überlebt."
Anja Röhl "Die Frau meines Vaters", EditionNautilus, ISBN 978-3-89401-771-2, 18€.
(Bild: Anja Röhl)