Zur Psychologie des Kitsches

Generell beruht die Wirkungsweise von Kitsch auf dem Hervorrufen starker Emotionen. So spricht Kitsch stets die sogenannten Affekte an - die man definieren kann als heftige Erregung bzw. Gemütsbewegung - und verwandelt sie in eine Quelle der Lust. Und zwar richten sich die Affekte in simplifizierender Weise auf bestimmte Extreme. Das heißt: Die reale Welt wird beispielsweise in einem kitschigen Film oder Roman klischeehaft auf wenige Muster reduziert, wobei simple "Schwarz-Weiß-Malerei", also die strikte Trennung zwischen "Gut" und "Böse", die Regel ist. Und diese Polarisierung ist deshalb für viele Menschen so verführerisch, weil sie anknüpft an das Projektions- und Regressionsverhalten des Menschen. Typisch für Kitsch ist also eine Vereinfachung des Weltbildes, die Projektions- und Regressionsverhalten ermöglicht. Und zwar bedeutet Projektion das Übertragen und Verlagern eigener Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt. Als Beispiele können hier genannt werden der tragische Held/die tragische Heldin in Filmen oder Romanen, Idole im Showbusiness und im Sport oder auch symbolträchtige Bauwerke und Monumente. Durch Projektion kann sich der Rezipient entweder unmittelbar aufwerten oder indirekt durch Identifikation mit einer Autorität erhöhen. Regression lässt sich mit einem Sich-fallen-lassen und Flüchten vor der Realität in eine schönere, einfachere Welt umschreiben, quasi als Rückfall in die Kindheit. Man kann diese Gefühlsdimension des Kitsches auch an Hand der Unterscheidung zwischen Tragödie und Melodrama verdeutlichen. Das heißt: Während in der Tragödie tatsächliche menschliche Abgründe und Konflikte differenziert darstellt werden und der Rezipient dadurch erschüttert wird, kann er dank der kitschtypischen Vereinfachung und "Schwarz-Weiß-Sicht" bei Melodramen mit gebührendem Abstand in Gefühlen schwelgen, so dass es nicht zu einer echten Anteilnahme kommt.

Kitsch und Kunst

Ein weiteres wesentliches Merkmal von Kitsch - in dem das problematische Verhältnis von Kitsch und Kunst zum Ausdruck kommt - ist das Nicht-zueinander-passen von Form und Inhalt. Ein Beispiel wäre die erotische Darstellung eines nackten Frauenkörpers in einer Umgebung und Atmosphäre, die Asexualität ausstrahlt, weil im Hintergrund niedliche Putten abgebildet sind. Und zwar löst diese Zweideutigkeit im Betrachter das Gefühl aus, sein Urteil solle bestochen werden, und es stellt sich bei ihm der Eindruck des Unauthentischen ein. Insofern hat Kitsch etwas mit Unechtheit zu tun, aber nicht im Sinne von Imitation, sondern von Unehrlichkeit. Kunst, die zu Kitsch wird, strahlt also etwas Unehrliches, Unwahrhaftiges und damit einen Mangel an Authentizität aus. Man könnte auch sagen: Während es in der Kunst darum geht, das Wahre und Schöne und zutiefst als bedeutsam Empfundene auszudrücken, tut der Kitsch nur so "als ob" und stellt damit eine Kultur (oder Unkultur) des schönen Scheins dar. Verstärkend kommt hinzu, dass Kitschbilder fast immer an eine alte Zeit anknüpfen, die es so niemals gegeben hat. Es geht also nicht um die legitime künstlerische Darstellung der Vergangenheit, sondern um ein "kitschig" verfälschtes, nostalgisches Bild der angeblich guten alten Zeit. Der entscheidende Unterschied zwischen Kunst und Kitsch aber besteht darin, dass, während Kunst die Funktion erfüllt, Grenzen zu überschreiten, die auf sozialer, politischer, ästhetischer Ebene in der Gesellschaft bestehen, und damit dem Betrachter Raum für einen Wertungsvorgang und ein eigenes, kritisches Urteil lässt, beim Kitsch die Aussage von vornherein feststeht, Kitsch den Betrachter sozusagen vor vollendete Tatsachen stellt und jede kritische Auseinandersetzung ausschließt. Man kann auch sagen: Während sich Kitsch durch Vereinfachung auszeichnet, spiegelt Kunst die reale Ambivalenz der wirklichen Welt wider, und dies verweist auf die gesellschaftlichen und historischen Hintergründe der Produktion und Rezeption von Kitsch.

Der historische Hintergrund

In historischer Perspektive besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Kitsch und der Zunahme der Freiheit des Einzelnen im Zuge der Aufklärung und des damit einhergehenden Wandels des Weltbildes. Das heißt: Während sich die Menschen in Zeiten fester Hierarchien und Wertesysteme nach mehr Freiheit sehnten und diese in der Kunst fanden, wünschten sie sich in einer liberalisierten Gesellschaft – in der die erlangte Freiheit sie auch ängstigte - solche festen Werte zurück und fanden die Befriedigung dieses Bedürfnisses im Kitsch. Ferner machte es die Teilung der Welt in Gut und Böse und Richtig und Falsch, die, wie oben gezeigt, dem Kitsch immanent ist, den Menschen offensichtlich leichter, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Blütezeit des Kitsches war das 19. Jahrhundert, in dem ökonomische und politische Umwälzungen zur Industrialisierung und Demokratisierung der Gesellschaft geführt hatten, was die Herausbildung einer breiten, konsumfreudigen Mittelschicht zur Folge hatte. Hier entstand einerseits der Wunsch nach einem geschützten Innenraum, dem "trauten Heim", andererseits nach Repräsentation und Demonstration von Luxus. Die technischen Entwicklungen ermöglichten die Massenproduktion von Kitschartikeln, mit denen diese Bedürfnisse befriedigt werden konnten.

Kitsch und nationalsozialistische Ideologie

Da Ideologien ebenso wie Kitsch stets einseitig und vereinfachend sind und alles, was nicht in das Weltbild passt, ausblenden, ist es nicht verwunderlich, dass sich Ideologien des Kitsches bedienen, um ihre Botschaften zu verbreiten. Von besonderer Bedeutung ist hier der Blut-und-Boden-Kitsch und Monumentalkitsch, da dieser vor allem im nationalsozialistischen Deutschland verbreitet war. So hatte der Blut-und-Boden-Kitsch die enge Verbundenheit mit der Heimat, der "Scholle" zum Thema, allerdings nicht im Sinne eines heimatlichen Idylls, sondern es wurden der Kampf und die Verteidigung des Landes heroisch-pathetisch idealisiert. Ein wichtiges Beispiel für den Monumentalkitsch war die Verehrung der "Helden" der deutschen Geschichte mittels monumentaler Denkmäler. Insgesamt kann man hier sprechen von Heimat-, Vaterlands- und Todeskitsch.

Vermassung und Entpolitisierung durch Kitsch

Was die Funktionen betrifft, die der Kitsch in der Gesellschaft erfüllt, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, so überwiegen ebenfalls die Negativurteile. Und zwar ist nach Ansicht der Kritiker die Angst des Einzelnen vor der Freiheit, vor der Vereinzelung, die, wie angedeutet, bereits das Zeitalter der Aufklärung mit sich gebracht hatte, in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts potenziert, so dass hier auch der Kitsch noch mehr als Mechanismus benötigt wird, um die damit verbundenen emotionalen Defizite zu kompensieren. In dieser Sichtweise ist allerdings der Kitsch, da er nur zusammenfasst, vereinfacht, vereinheitlicht, in der modernen Gesellschaft nur ein Mittel zur Vermassung des Individuums und kein Ausweg aus der Heimatlosigkeit des Einzelnen. Demzufolge schließt schon die Konzeption des Kitsches als Massenartikel aus, die differenzierten Ansprüche des Individuums tatsächlich zu erfüllen. Indem durch Kitsch fixe Assoziationen und Stereotypen vermittelt werden, kommt es vielmehr - so die Kritik - zur Herausbildung eines konformen Bewusstseins. Besonders brisant erscheint der Transport kitschiger Inhalte durch die Unterhaltungsindustrie. Hier wird die Befürchtung geäußert, dass, indem die Phantasie der Individuen durch ein wahres Bombardement seichter Unterhaltung blockiert, ihnen der Schein als Wirklichkeit verkauft wird, ihre Handlungs- und Kritikfähigkeit ausgeschaltet wird und sie damit entpolitisiert werden.

Zur Aufwertung des Kitsches in der Gegenwart

Gegenwärtig werden immer mehr Stimmen laut, die die Freude vieler Menschen an Kitsch für legitim erachten und einen entspannten Umgang mit Kitsch empfehlen. Es wird mit anderen Worten zunehmend akzeptiert, dass viele Menschen ihre Grundbedürfnisse nach Frieden, Ruhe, Idylle, Gemeinschaft und starken Gefühlen, nach Schönheit, Harmonie, Gerechtigkeit und Glück, speziell auch Liebesglück, durch den Umgang mit Kitsch befriedigen möchten, dass viele Menschen ihr Herz an Dinge hängen, die als kitschig gelten. Das heißt: Bedürfnisse nach Sentimentalität, Illusionen und der Flucht aus der Realität erscheinen zunehmend nicht mehr als Ausdruck von Ignoranz und Spießertum. Insofern hat Kitsch die Aura des Anstößigen, Verachtenswerten weitgehend verloren. Ein deutliches Indiz dafür ist der Wandel des Verhältnisses von Kitsch und Kunst. So wird Kitsch neuerdings auch als Teil der Kunst und/oder Stilmittel eingesetzt und anerkannt. Kitsch ist heute eher Kult als schlechte Kunst.

Ursachen der neuen Sehnsucht nach der heilen Welt

Wenn man davon ausgeht, dass sich in der Hinwendung zum Kitsch eine massive Sehnsucht nach der heilen Welt manifestiert, stellt sich natürlich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen dieser Entwicklung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Und zwar ist – wie eine Studie zeigt – die Sehnsucht nach der heilen Welt in der Gegenwart einerseits krisengetrieben. Das heißt: Bankenkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, aber auch Ökokrise, verunsichern und destabilisieren die Aussichten auf eine berechenbare Zukunft. Dabei verstärken unglaubwürdige Führungskräfte aus Politik und Wirtschaft die Orientierungslosigkeit. Andererseits ist die gegenwärtige Sehnsucht nach einer heilen Welt eine Antwort auf den modernen "Way Of Life", der gekennzeichnet ist durch eine zunehmende Entrhythmisierung unseres Alltags infolge der Verschmelzung von Arbeit und Freizeit, das Nachlassen sozialer Verbindlichkeiten sowie die Entfremdung von sinnlichem Erleben infolge der Verlagerung vieler Aktivitäten in eine virtuelle Welt. Rettung verheißt der Rückzug in eine heile Welt, die - und das ist von besonderer Bedeutung - größtenteils selbst inszeniert ist. So erfreut man sich nicht nur an vorgefertigten Kitschartikeln, sondern besinnt sich auf alte Handwerkskunst, um Dinge des täglichen Gebrauchs selber herzustellen, junge Leute bauen in Schrebergärten selber Gemüse an, was bis vor kurzem kaum vorstellbar war, oder kaufen fair produzierte und gehandelte Produkte. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass dieser neuerliche Rückzug in eine heile Welt nicht bedeuten muss, dass sich die Gesellschaft angesichts der globalen Krisen und Probleme resigniert in eigene künstliche Welten verkriecht und bis zur Erstarrung abschottet, sondern dass daraus auch Kreatives, Neues entstehen, dass sich dadurch unsere Gesellschaft langfristig zum Positiven hin verändern kann.

Fazit

Die Leidenschaft für Kitschiges galt über viele Jahrzehnte als Ausdruck reaktionären Spießertums, einer Flucht vor den Problemen der Wirklichkeit und damit als indirekte Unterstützung konservativer Ideologien. Das heißt: Die Hinwendung zum Kitsch wurde damit in Verbindung gebracht, dass sich die Menschen den Herausforderungen in der freiheitlichen Gesellschaft nicht gewachsen fühlten. Die erneute Sehnsucht nach der heilen Welt als Antwort auf die massiven gesellschaftlichen Probleme am Beginn des 21. Jahrhunderts, die u.a. in einem betont lockeren Umgang mit Kitsch zum Ausdruck kommt, erscheint demgegenüber weniger als Furcht vor der Freiheit, sondern vielmehr als eine angemessene und durchaus positiv zu bewertende Reaktion. Diese neue Sichtweise hängt damit zusammen, dass im 21. Jahrhundert die Sehnsucht nach der heilen Welt nicht automatisch gekoppelt ist mit Weltflucht, sondern einhergehen kann mit dem Skizzieren eines Gegenentwurfs zu ständiger Verfügbarkeit, Anonymität, Burn-out in der Gesellschaft der Gegenwart und damit emanzipatorisch wirken kann. Im 21. Jahrhundert könnte sich also der Gartenzwerg als ein bärtiger Anarchist entpuppen– um mit einem kleinen Scherz zu schließen.

Bildnachweis

Alle Bilder: Pixabay.com

Laden ...
Fehler!